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Die Sache mit dem Ich

Die Sache mit dem Ich

Titel: Die Sache mit dem Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Fischer
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ein Leben erzählen. Wissen Sie, worüber er sprach?«
    »Nö.«
    »Über Jesus. NUR über Jesus, die Bibel und die Zehn Gebote. Diesen Religiositätswahn haben wir Bush zu verdanken. In zehn Jahren, ich schwöre es, sind die USA ein Gottesstaat. In zehn Jahren sieht es hier aus wie in dem Film »Mad Max Beyond Thunderdome«.
    »Wo Tina Turner mitgespielt hat?«
    »Ganz genau.«
    »Entschuldigung, Mr. Boyle, aber das ist ein Strand hier. Man soll sich hier gut fühlen. Sehen Sie – da sind Menschen in Bikinis und Badeanzügen. Sie schwimmen im Meer wie Robbenbabys. Sie lachen. Warum schwimmen Sie nicht auch?«
    »Der Niedergang ist unaufhaltsam«, sagt er nur und knetet seinen Totenkopfring am Finger. Ein niedergeschlagener Darth-Vader-Skatepunk-Hippie. Gäb’s ihn als Comic, bräuchte man bloß einen schwarzen Filzer.
    Dann, aber mehr zu sich selbst: »Ich muss dafür sorgen, dass man mich ins Arabische übersetzt. Das Problem ist nur, dass das auch alles Gottesstaaten sind.«
    Und ein Boylelächeln.
    Eine der Geschichten, die es über ihn gibt, ist die, dass er 1973, mit 25, auf einmal entschied, nie wieder fernzusehen, weil er überzeugt war, dass es seine Synapsen auf ewig verändern würde, ähnlich wie Nikotin die Rezeptoren im Hirn. Wie ernst er es meint, wird klar, wenn er vom 11. September erzählt. Er steckte gerade an der Arbeit zu »Drop City«. Auf einmal stand seine Frau im Arbeitszimmer: »Es ist etwas passiert, Tom.« Sie klopfte tatsächlich an, bevor sie reinkam. Er ging zum Fernseher, schaute sich zehn Minuten lang die zusammenfallenden Türme an und kehrte zum Buch zurück, das er vier Wochen später beendete, ohne auch nur noch ein einziges Mal Nachrichten gesehen zu haben. Nicht unwahrscheinlich, dass er der einzige Amerikaner ist, der es so gemacht hat. Aber wenn er sich einmal für etwas entscheidet, bleibt er dabei. Darum hat er seit dreißig Jahren denselben Schmuck, denselben Bart, dieselbe Frisur, denselben Agenten. Und dieselbe Frau, auch wenn sie bislang verschwunden bleibt. Sie, die ihn »menschlich macht«, wie er sagt. In der Tat können das nur Frauen.
    »Würden Sie sich erschießen wie Hunter S. Thompson, wenn Sie nicht mehr schreiben könnten?«
    »Ehrensache.«
    Er kann das so sagen, weil er so, wie er arbeitet, auch dann noch Romane schreiben wird, wenn aus den USA nach dem Mad-Max-Stadium wieder eine Demokratie oder ein Königreich oder eine iranische Kolonie geworden ist. Unvorstellbar, dass ihm eines Tages nichts mehr einfällt. Etwas Unzerstörbares ist an ihm, wie an so vielen Amerikanern, so dick, dünn, lang sie auch sein mögen.
    »Und der Tod ist ein Idiot.«
    Dann, endlich, sind wir vor seinem Haus, der Lloyd-Wright-Villa. Der Weg zurück kam mir viel kürzer vor als der hin, aber es war ja auch ein Weg, der weniger mit den Füßen als im Kopf zurückgelegt wurde, durch Boyle-Land, das Wunderland, den Wald der Zeichen. Und dies ist nun sein Zentrum.

    Es ist ein komisches Haus. Das erste, das Lloyd Wright in Kalifornien gebaut hat, das erste seines Prärie-Stils, der sich eher horizontal zum Boden in die Landschaft duckt, als über sie hinauszuragen. Das Haus, fast komplett aus Holz, ist kreuzförmig angelegt, sodass es in jeder Himmelsrichtung über einen autarken Bereich verfügt. Dazu überrascht es: An einigen Stellen ist die Decke keine zwei Meter hoch, sodass der Riesenboyle fast mit seiner Vogelnestfrisur anstößt, dann wieder gibt es den Blick fünf, sechs Meter hoch bis zum Dach frei. Es engt ein und befreit gleichzeitig, wie ein Bild mit Rahmen, wie Seiten in einem Buch. Es ist dem Garten, der es umgibt, nicht unähnlich. Es ist der Boyle-Welt, die es umgibt, nicht unähnlich. Und Türen gibt’s auch. Bloß waren sie von der Straße aus nicht zu sehen.
    Boyle will zurück zu dem neuen Buch, an dem er gerade arbeitet. Wieder was über eine Figur der amerikanischen Kulturgeschichte, so wie bei Kinsey, aber mehr will er noch nicht sagen.
    »Wo wir vorhin kurz vom Tod redeten – wer ist eigentlich der bestaussehende tote alte Mann aller Zeiten?«, fragt er an der Tür, die es dann doch gibt.
    »Samuel Beckett vielleicht?«
    »Stimmt. Er hatte diese unglaublichen weißen Haare bis zum Schluss.«
    »Ja. Und er war so unglaublich schlank.«
    »Alle Alten sind schlank. Die Dicken sterben vorher. Wer richtig alt wird, wird richtig dünn, ist es nicht so?« Zum ersten Mal heute sieht er so jung aus wie seine Protagonisten, die fast immer Mitte dreißig sind. So

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