Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
er den Sturz unbeschadet überstanden.
Er rappelte sich auf und kletterte vom Trümmerhaufen hinunter; die letzten Blöcke übersprang er. Er war noch einmal davongekommen.
Ich bin in Sicherheit, dachte er, und die Knie wurden ihm schwach. Am liebsten hätte er blindlings drauflos geheult. Ich habe es geschafft! Stolz mischte sich in das Gefühl der grenzenlosen Erleichterung. Was für ein Abenteuer!
Doch das Abenteuer war noch nicht vorüber. Hier draußen hing nur ein schwacher Brandgeruch in der Luft, und das ohrenbetäubende Brausen der Flammen im Dachstuhl klang wie das ferne Rauschen des Windes. Dass die Kirche in Flammen stand, bewies lediglich der rötliche Feuerschein hinter den Fenstern. Dennoch war es nur noch eine Frage der Zeit, bis die ersten Klosterbewohner aus dem Schlaf schreckten. Die von den stürzenden Balken ausgelösten Erschütterungen mussten über kurz oder lang jemanden aus dem Schlaf schrecken. Jeden Augenblick konnte ein verschlafener Mönch, der nicht wusste, ob sich tatsächlich ein Erdbeben ereignet oder ob er es nur geträumt hatte, aus dem Dormitorium gestolpert kommen … Jack hatte die Kathedrale angezündet – ein verabscheuungswürdiges Verbrechen in den Augen eines Mönchs. Er musste so schnell wie möglich verschwinden.
Er lief über den Rasen zum Gästehaus. Alles war still und ruhig. Keuchend blieb er vor der Tür stehen. Wenn ich so schnaufe, wachen sie alle gleich auf, dachte er. Er versuchte, sich wieder zu beruhigen, doch dadurch wurde die Keucherei nur noch schlimmer. Ihm blieb nichts anderes übrig, als abzuwarten.
Eine Glocke begann zu läuten und schallte durch die stille Nacht. Es war ein drängendes, unnachgiebiges Geläute, ein Hilferuf, der keinen Fehlschluss mehr zuließ. Jack erstarrte. Wenn ich jetzt reingehe, wissen sie sofort Bescheid. Aber wenn ich nicht reingehe …
Die Tür des Gästehauses öffnete sich, und heraus trat Martha. Entsetzt starrte Jack sie an.
»Wo warst du denn?«, fragte sie mit sanfter Stimme. »Du riechst nach Rauch.«
Jack suchte eine glaubhafte Ausrede. »Ich bin gerade erst rausgekommen«, sagte er in seiner Verzweiflung. »Ich habe die Glocke läuten hören.«
»Lügner«, erwiderte Martha. »Du bist schon ewig lang fort, das weiß ich genau. Ich war nämlich wach.«
Jack sah ein, dass er ihr nichts vormachen konnte. »War sonst noch jemand wach?«, fragte er angstvoll.
»Nein, nur ich.«
»Sag keinem, dass ich fort war, Martha. Bitte!«
Sie spürte die Furcht in seinen Worten und sagte in beruhigendem Ton: »Ja, Jack, ich schweige. Hab keine Angst!«
»Danke!«
In diesem Augenblick erschien Tom neben ihnen. Er kratzte sich am Kopf. »Was geht hier vor?«, fragte er verschlafen und hob die Nase. »Hier riecht’s irgendwie brenzlig.«
Jack deutete auf die Kathedrale; sein Arm zitterte. »Ich glaube …«, begann er und musste schlucken. Es klappt, dachte er insgeheim. Tom denkt sicher, dass ich gerade erst aufgestanden bin, kurz vor Martha. Als er weitersprach, klang seine Stimme zuversichtlicher. »Die Kirche, schau! Ich glaube, sie brennt.«
+++
Philip hatte sich noch nicht ans Alleinschlafen gewöhnt. Er vermisste die stickige Dormitoriumsluft, das Geraschel und Geschnarche der schlafenden Mitbrüder, auch die Unruhe, die entstand, wenn ein älterer Mönch aufstand und zur Latrine schlurfte (meistens gefolgt von anderen Brüdern im fortgeschrittenen Alter – eine regelmäßig wiederkehrende Prozession, über die sich die jüngeren Brüder immer sehr amüsierten). Am Abend störte ihn das Alleinsein noch nicht; da war er immer todmüde. Nachts jedoch, wenn ihn die Frühmesse geweckt hatte, fiel es ihm seit einiger Zeit schwer, wieder einzuschlafen. Anstatt wieder ins große weiche Bett zurückzukehren (es war ihm ein wenig peinlich, wie schnell er sich daran gewöhnt hatte), blieb er oft wach. Er machte sich ein Feuer, vertiefte sich bei Kerzenschein in seine Lektüre, kniete zum Beten nieder oder saß ganz einfach da und dachte nach.
Es gab eine Menge, worüber er nachdenken musste. Die finanzielle Lage der Priorei war noch viel schlimmer, als er befürchtet hatte. Das Hauptproblem war, dass das Kloster in seiner Gesamtheit zu niedrige Einkünfte erwirtschaftete. Es fehlte überall an Bargeld. Zwar verfügte man über große Ländereien, doch waren die meisten Höfe langfristig zu niedrigem Zins verpachtet, und manche von ihnen lieferten den Pachtzins in Naturalien ab – so und so viele Sack Mehl, so und
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