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Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth

Titel: Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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sich, ob sie sich vielleicht dazu bewegen ließ, ihre Geschichte zu erzählen. Er wollte unter keinen Umständen, dass sie jetzt fortging.
    »Wie ist denn das alles so weit gekommen?«, fragte er unbestimmt.
    Wieder sah sie ihm in die Augen. Und dann fing sie an zu erzählen.
    Ihr Vater war ein Ritter gewesen, ein großer, starker, gewalttätiger Mann, der sich Söhne wünschte, mit denen er reiten und ringen und jagen konnte, Gefährten, die des Abends mit ihm zechten. Doch die Erfüllung seiner Wünsche blieb ihm versagt, denn er bekam eine Tochter, Ellen, und dann starb seine Frau. Er heiratete wieder, doch seine zweite Frau war unfruchtbar. Es kam so weit, dass er Ellens Stiefmutter verabscheute, und schließlich jagte er sie gar aus dem Haus. Er musste ein sehr grausamer Mensch gewesen sein, obgleich Ellen davon nichts merkte. Sie verehrte ihn und teilte seine Abneigung gegen die zweite Gemahlin, und so blieb sie auch bei ihrem Vater, als die Stiefmutter endlich ging. Sie wuchs nun in einem reinen Männerhaushalt auf. Ellen spielte nicht mit Kätzchen und kümmerte sich nicht um alte blinde Hunde, sondern sie ließ sich die Haare stutzen und trug einen Dolch. Als sie Marthas Alter erreicht hatte, spuckte sie aus wie ein Mann, vertilgte die Äpfel mitsamt dem Kerngehäuse, und war ihr ein Pferd nicht zu Willen, so trat sie es so heftig in den Bauch, dass es vor Schreck die Luft anhielt und ihr gestattete, den Sattelgürtel noch ein Loch fester zu zurren. Sie wusste, dass alle Männer, die nicht zum Gefolge ihres Vaters gehörten, Schwanzschlecker hießen und alle Frauen, die sich nicht mit ihnen abgeben wollten, Schweinehuren. Die tiefere Bedeutung dieser Schimpfworte blieb ihr damals zwar noch schleierhaft, interessierte sie aber auch gar nicht.
    Der gleichmäßige Klang ihrer Stimme in der milden Luft des Herbstnachmittags lullte Tom ein. Er schloss die Augen und sah Ellen als kleines, flachbrüstiges Gör mit dreckigem Gesicht bei ihrem Vater und seinen Spießgesellen am langen Tisch sitzen. Sie goss starkes Bier in sich hinein, rülpste und grölte wilde Kampfgesänge, in denen es um Plündern, Rauben und Schänden, um Pferde und Burgen und edle Jungfrauen ging … bis sie zu guter Letzt umfiel und auf den harten Brettern ihren Rausch ausschlief.
    Wäre sie nur immer so flachbrüstig geblieben, ihr Leben hätte einen weit glücklicheren Verlauf genommen! Doch mit den Jahren änderte sich das Verhalten der Männer in ihrer Gegenwart. Sie sahen sie mit anderen Augen an und brüllten nicht mehr vor Lachen, wenn Ellen zu ihnen sagte: »Haut ab, sonst schneid ich euch die Eier ab und werf sie den Schweinen zum Fraß vor!« Die Männer glotzten sie an, wenn sie des Abends ihr wollenes Überkleid auszog und sich in ihrem langen Leinenhemd zum Schlafen niederlegte. Und wenn sie draußen im Wald ihr Wasser abschlugen, wandten sie ihr im Gegensatz zu früher den Rücken zu.
    Mit der Kirche hatte der Vater sonst wenig im Sinne, doch eines Tages überraschte Ellen ihn im Gespräch mit dem Dorfpfarrer – und die beiden sahen sie an, als unterhielten sie sich gerade über sie. Am nächsten Morgen sagte ihr Vater zu ihr: »Nun geh mit Henry und Everard und tu, was sie dir anschaffen.« Dann küsste er sie auf die Stirn. Ellen fragte sich, was in ihn gefahren sein mochte – wurde er auf seine alten Tage plötzlich sanft und milde? Sie sattelte ihren schnellen Grauschimmel – einen Zelter oder ein Pony zu reiten lehnte sie ab – und machte sich mit den beiden Bewaffneten auf den Weg.
    Die Männer lieferten Ellen in einem Nonnenkloster ab und ritten wieder zurück. Sie tobte und schrie und fluchte gotteslästerlich. Mit ihrem Dolch verletzte sie die Äbtissin, dann rannte sie davon und lief nach Hause. Ihr Vater schickte sie wieder zurück – auf dem Rücken eines Esels, an Händen und Füßen gefesselt und an den Sattel gebunden. Im Kloster wurde sie in eine Büßerzelle gesteckt und darin festgehalten, bis die Wunde der Äbtissin geheilt war. Es war ein kaltes, feuchtes und dunkles Loch. Sie bekam Wasser, aber nichts zu essen. Kaum war sie aus dem Karzer entlassen, lief sie wieder davon, doch ihr Vater sandte sie umgehend zurück. Diesmal wurde sie ausgepeitscht, bevor man sie wieder in die dunkle Zelle steckte.
    Es gelang ihnen schließlich doch, ihren Widerstand zu brechen. Ellen legte den Habit der Novizin an, befolgte die Klosterregeln und lernte die Gebete auswendig, obgleich sie im Grunde ihres Herzens die

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