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Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth

Titel: Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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die Schmerzen und Ängste der Geburt. Lange Zeit glaubte sie, sterben zu müssen, doch als alles vorüber war, war sie noch am Leben und das Neugeborene gesund und munter.
    In den folgenden elf Jahren führten Ellen und Jack ein einfaches, bescheidenes Leben. Der Wald bot ihnen alles, was sie brauchten, solange sie sich darum kümmerten, rechtzeitig Wintervorräte anzulegen – Äpfel, Nüsse und gepökeltes oder geräuchertes Wildbret. Gäbe es keine Könige und Edelleute, keine Bischöfe und Vögte, dachte Ellen mitunter, dann könnte ein jeder so leben wie wir und damit glücklich und zufrieden sein.
    Tom fragte sie, wie sie mit den anderen Outlaws im Walde auskam, mit Männern wie Faramond Openmouth zum Beispiel. Er stellte sich vor, wie sie des Nachts an ihre Lagerstelle schlichen, um ihr Gewalt anzutun, und obwohl er nie in seinem Leben eine Frau gegen ihren Willen besessen hatte – nicht einmal seine eigene –, spürte er jetzt die Lust in seinen Lenden.
    Die anderen Outlaws, erklärte Ellen, fürchteten sich vor ihr. Er sah ihr in die leuchtenden, hellen Augen und wusste warum: Sie hielten Ellen für eine Hexe. Den gesetzestreuen Bürgern, die durch den Wald reisten und genau wussten, dass sie mit einem Vogelfreien tun und lassen konnten, was sie wollten, und nicht einmal dann, wenn sie ihn totschlugen, eine Strafe zu befürchten hatten, ging Ellen einfach aus dem Weg. Und warum hatte sie sich vor ihm, Tom, nicht versteckt? Sie habe das verwundete Kind gesehen, sagte sie, und ihre Hilfe anbieten wollen; schließlich habe sie selbst ein Kind.
    Sie hatte ihren Sohn in allem unterwiesen, was man ihr im Vaterhaus über die Jagd und den Umgang mit Waffen beigebracht hatte. Und dann hatte sie ihn gelehrt, was sie bei den Nonnen gelernt hatte: Schreiben und Lesen, Musik und Zahlen, Französisch und Latein, Zeichnen und sogar die Geschichten aus der Bibel. An langen Winterabenden hatte sie ihm zudem das Vermächtnis seines französischen Vaters anvertraut, der mehr Legenden, Gedichte und Lieder kannte als jedermann sonst auf der Welt.
    Tom glaubte ihr nicht, dass der Knabe Jack schreiben und lesen konnte. Er selbst konnte gerade seinen Namen und eine Handvoll anderer Wörter wie Pence und Schritt und Scheffel schreiben. Agnes, die Tochter eines Priesters, war da schon geschickter, doch auch ihr fiel es schwer genug; sie schrieb sehr langsam und bemüht, und die Zungenspitze sah ihr dabei aus dem Mundwinkel. Alfred konnte überhaupt nicht schreiben, ja er war kaum imstande, seinen eigenen Namen zu erkennen, und Martha konnte nicht einmal das. Unvorstellbar, dass dieses blöde wirkende Kind mehr vom Schreiben und Lesen verstehen sollte als Toms gesamte Familie!
    Ellen forderte ihren Sohn auf, etwas zu schreiben. Jack glättete mit der Hand einen Fleck Erde und kratzte mit den Fingern Buchstaben hinein. Tom erkannte das erste Wort – Alfred  –, musste danach jedoch passen und kam sich dabei wie ein Narr vor. Ellen befreite ihn aus seiner peinlichen Lage, indem sie ihm den ganzen Satz vorlas: »Alfred ist größer als Jack.« Dann zeichnete der Junge flink zwei Figuren in den Sand, eine große und eine kleine, und obwohl es sich um ziemlich einfache Gestalten handelte, konnte man gut erkennen, dass die eine breitschultrig war und ziemlich dämlich guckte, während die andere, kleinere, offensichtlich grinste. Tom, der selber über ein gewisses Zeichentalent verfügte, war von der Einfachheit und Kraft der in die Erde gekratzten Figuren beeindruckt.
    Und doch wirkte das Kind auf ihn wie ein Idiot.
    Ellen ahnte, was Tom dachte, und bekannte, dass ihr das kürzlich auch aufgefallen sei. Jack hatte nie in seinem Leben mit anderen Kindern gespielt, ja ihm fehlte – außer mit seiner Mutter – jeglicher Umgang mit anderen Menschen. Infolgedessen war er wie ein wildes Tier aufgewachsen und hatte trotz all seiner erlernten Kenntnisse nicht die geringste Ahnung, wie er sich in Gegenwart anderer Menschen benehmen sollte – und deshalb redete er kein Wort, stierte nur großäugig vor sich hin und schnappte sich Gegenstände, ohne zu fragen.
    Zum ersten Mal seit Beginn ihrer Geschichte wirkte Ellen bei diesen Worten verletzlich, und die Aura der durch nichts zu bezwingenden Unabhängigkeit fiel von ihr ab. Tom erkannte, dass sie im Grunde ebenso besorgt wie ratlos war. Um Jacks willen musste sie sich wieder der menschlichen Gesellschaft anschließen – bloß wie? Einem Mann war es vielleicht möglich, einen

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