Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
Gelegenheit zu geben, sich selbst zu überzeugen.
»Perfekt«, sagte Philip.
»So ist es«, bestätigte Tom und nickte.
»Wisst Ihr, was wir heute für einen Tag haben?«, fragte Philip.
»Freitag.«
»Es ist darüber hinaus der Tag, an dem wir uns an das Martyrium des heiligen Adolphus erinnern. Gott schickte uns diesen Sonnenaufgang, damit wir die Lage der neuen Kirche am Tag unseres Heiligen bestimmen konnten. Ist das nicht ein gutes Zeichen?«
Tom lächelte. Nach seiner Erfahrung kam es im Bauhandwerk mehr auf gute Arbeit an als auf gute Vorzeichen – doch das hinderte ihn nicht daran, sich für Philip zu freuen. »Ja, in der Tat«, sagte er. »Es ist ein sehr gutes Zeichen.«
Kapitel VI
Aliena war fest entschlossen, nicht mehr daran zu denken. Die ganze Nacht hindurch hockte sie mit dem Rücken zur Wand auf dem kalten Steinfußboden der Kapelle und starrte in die Finsternis. Anfangs kreisten ihre Gedanken unablässig um die teuflischen Schrecken, die sie durchlitten hatte, doch ganz allmählich ließ der Schmerz ein wenig nach, und es gelang ihr, ihre Sinne den Geräuschen des Sturms zuzuwenden – dem Regen, der auf das Kapellendach trommelte, und dem Wind, der um die Wälle der verlassenen Burg heulte.
Zunächst war sie nackt gewesen. Als sie endlich von ihr abgelassen hatten, waren sie an den Tisch zurückgegangen und hatten sich über die Speisen und Getränke hergemacht, ohne noch einen Gedanken an Aliena und den blutenden Richard zu verschwenden, der neben ihr auf dem Boden lag. Die Geschwister hatten die Gelegenheit beim Schopf ergriffen und waren aus dem Zimmer geflüchtet. Zu diesem Zeitpunkt war der Sturm bereits losgebrochen, sodass sie in strömendem Regen über die Brücke gehastet waren und in der Kapelle Zuflucht gesucht hatten. Richard allerdings war umgehend in den Wohnturm zurückgekehrt. Dort musste er in dem Raum, in dem sich die Männer aufhielten, seinen und Alienas Umhang vom Kleiderhaken neben der Tür gerissen und sich, noch ehe William und sein Reitknecht aufspringen konnten, wieder aus dem Staub gemacht haben.
Noch immer schwieg er beharrlich. Er hatte Aliena ihren Umhang gegeben und sich in seinen eigenen gehüllt. Nun hockte er, mit deutlichem Abstand zu seiner Schwester, ebenfalls auf dem Boden, den Rücken gegen dieselbe Wand gelehnt. Sie sehnte sich danach, von einem liebevollen Menschen in die Arme genommen und getröstet zu werden, aber Richard tat, als hätte sie etwas unsagbar Schändliches verbrochen. Und das Schlimmste daran war, dass sie selbst genauso empfand. Sie hätte sich nicht schuldiger fühlen können, wenn sie eine Todsünde begangen hätte. Sie verstand sehr gut, warum er sie nicht trösten, sie nicht einmal berühren wollte.
Die Kälte war eine Erleichterung. Sie half ihr, sich abzukapseln, sich in ihr Schneckenhaus zu verkriechen; außerdem schien sie den Schmerz zu betäuben. An Schlaf war gar nicht erst zu denken, doch irgendwann im Laufe der Nacht fielen die Geschwister in einen tranceähnlichen Zustand und saßen lange Zeit vollkommen bewegungslos.
Das plötzliche Ende des Sturms brach den Bann. Jetzt erkannte Aliena, dass die bisher undurchdringliche Dunkelheit gewichen war, dass sich die Fenster der Kapelle als kleine graue Flecken ausnahmen. Richard erhob sich und trat zur Tür. Sie beobachtete ihn, verärgert über die Störung. Am liebsten wäre sie an dieser Wand sitzen geblieben, bis sie erfroren oder verhungert wäre. Sie konnte sich nichts Schöneres vorstellen, als friedlich in ewige Besinnungslosigkeit hinüberzudämmern. Dann öffnete Richard die Tür, und das schwache Licht der Morgendämmerung fiel auf sein Gesicht.
Der Schock riss Aliena aus ihrer Trance. Richard war kaum wiederzuerkennen. Sein unförmig angeschwollenes Gesicht war blutverkrustet und mit blauen Flecken übersät. Sein Anblick rührte sie fast zu Tränen. Richard war von jeher ein Schaumschläger gewesen. Als kleiner Junge war er auf einem nur in seiner Fantasie existierenden Pferd um den Burghof gefegt und hatte imaginäre Feinde mit einer imaginären Lanze erstochen. Vaters Ritter hatten ihn noch dazu ermuntert, indem sie so taten, als fürchteten sie sich vor seinem hölzernen Schwert, wo ihn doch in Wirklichkeit schon jedes fauchende Kätzchen in die Flucht schlug. In dieser Nacht aber hatte Richard all seinen Mut zusammengenommen – und war dafür entsetzlich zugerichtet worden. Von nun an würde Aliena sich um ihn kümmern müssen.
Sie erhob sich
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