Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
ein Segment aus einer Margeritenblüte geformt – ein Viertelkreis mit mehreren runden Ausbuchtungen, die an Blütenblätter erinnerten. Wozu brauchte er einen solchen Stein, fragte sich Philip. Es fiel ihm schwer, sich diese Dinge auszumalen. Toms große Vorstellungskraft war für ihn immer wieder Anlass zur Bewunderung. Er warf einen Blick auf Toms holzgerahmte, in Mörtel geritzte Zeichnungen und fand heraus, dass er eine Schablone für die Pfeiler der Arkade in der Hand hielt. Sie würden wie gebündelte Schäfte aussehen. Philip war bisher davon ausgegangen, dass sich solche Pfeiler tatsächlich aus gebündelten Schäften zusammensetzten. Erst jetzt begriff er, dass es sich um eine optische Täuschung handelte: Die Pfeiler waren in Wirklichkeit massive Steinsäulen mit schaftähnlichen Dekorationen.
Fünf Jahre, und der Ostflügel ist fertig, hatte Tom gesagt. Fünf Jahre – und er, Philip, konnte wieder in einer Kathedrale die Messe lesen. Er musste nur das Geld dafür auftreiben. Da seine Reformen eine gewisse Anlaufzeit brauchten, war es im laufenden Jahr noch recht schwierig, die Mittel für einen bescheidenen Anfang zu finden. Aber Philip war zuversichtlich. Nach dem Verkauf der Frühjahrswolle im nächsten Jahr werden wir uns mehr Handwerker leisten können, dachte er; dann können die Bauarbeiten richtig beginnen.
Die Glocke läutete zur Abendandacht. Philip verließ den kleinen Schuppen und ging zur Krypta. Er traute seinen Augen kaum, als er zur Klosterpforte hinüberblickte: Tom Builder und die Steinbrecher kehrten zurück! Was war geschehen? Tom hatte doch gesagt, er wolle eine Woche fortbleiben, und das Steinbrechergespann sollte sich doch an Ort und Stelle einquartieren! Philip eilte ihnen entgegen.
Beim Näherkommen bemerkte er, dass die Männer völlig erschöpft waren. Die Enttäuschung stand ihnen ins Gesicht geschrieben.
»Was gibt’s?«, erkundigte er sich. »Wieso seid Ihr schon zurück?«
»Schlechte Nachrichten«, erwiderte Tom Builder.
Während des Gottesdienstes kochte Philip vor Wut. Graf Percys Verhalten war eine Unverschämtheit. Die Rechtslage in diesem Fall war völlig klar; die Anweisungen des Königs waren unzweideutig. Der Graf war bei der Verkündung persönlich zugegen gewesen, und das Schürfrecht für den Steinbruch war der Priorei in einer Urkunde verbrieft worden. Unruhig klopfte Philips rechter Fuß auf den Steinfußboden der Krypta. Man bestiehlt uns, dachte er. Percy hätte ebenso gut Geld aus einem Kirchenschatz stehlen können. Für sein Verhalten gibt es nicht die geringste Entschuldigung! Schamlos verweigerte er sowohl Gott als auch dem König den Gehorsam.
Das Schlimmste war, dass Philip die neue Kathedrale ohne die kostenlosen Steine aus dem Steinbruch nicht bauen konnte. Die Finanzierung war eine Gratwanderung. Falls die Steine zum gängigen Marktpreis gekauft und über noch weitere Strecken hertransportiert werden mussten, würde sich der Beginn der Bauarbeiten um etwa ein Jahr verzögern. Sechs oder sieben Jahre würde es dauern, bis die Gottesdienste wieder in einer Kathedrale abgehalten werden konnten. Allein der Gedanke daran war unerträglich. Gleich nach dem Abendgottesdienst berief er eine Notsitzung der Kapitelversammlung ein und teilte den Mönchen mit, was geschehen war.
Philip hatte inzwischen seinen eigenen Stil in der Kapitelversammlung durchgesetzt. Remigius, sein Stellvertreter, verübelte ihm immer noch, dass er bei der Wahl unterlegen war, und machte, wenn es um geschäftliche Dinge ging, keinen Hehl aus seiner Abneigung. Remigius war ein konservativer, fantasieloser Pedant, dessen Vorstellung von der Führung eines Klosters sich in keinem einzigen Punkt mit Philips Ansichten deckte. Die Brüder, die bei der Wahl für Remigius gestimmt hatten, gaben ihm auch im Kapitel zumeist Schützenhilfe: Andrew, der am Schlagfuß leidende Sakristan; Pierre, der engstirnige Cirkator, und John Small, der faule Ökonom. Philips engste Mitarbeiter waren diejenigen, die sich für seine Wahl eingesetzt hatten: Cuthbert Whitehead, der alte Kellermeister, und der junge Milius, den Philip mit dem neu geschaffenen Amt des Schatzmeisters betraut hatte und dem folglich die Verantwortung für die Finanzen der Priorei oblag. Die Streitereien mit Remigius überließ Philip stets ihm. Meistens sprach er alle wichtigen Punkte vor der Kapitelversammlung mit Milius durch. War das nicht der Fall, so konnte er sich darauf verlassen, dass Milius eine ähnliche Meinung
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