Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
raubte. Entsetzt schrie sie auf. Wie zur Antwort hoben die Hämmer erneut die Köpfe und schlugen an. Sie droschen auf eine Bahn ihres lose gewebten Stoffs ein, die, eben mit Wasser bedeckt, in einem flachen Holztrog jener Art lag, wie ihn die Mörtelmischer beim Dombau benutzten. Ihr wurde klar, dass die Hämmer den Stoff walkten, und das beruhigte sie, wenngleich das Ganze immer noch erschreckend lebendig wirkte. Aber wie kam das eigentlich zustande? Die Stange mit den Hämmern verlief parallel zur Achse des Mühlrades, an der wiederum eine Holzbohle befestigt war, die sich mit der Achse drehte. Bei jeder Drehung traf die Holzbohle auf die Hammerstiele und drückte sie nach unten, sodass die Köpfe aufsahen. Dann gab die sich weiterdrehende Bohle die Stiele wieder frei, sodass die Hammerköpfe herabsausten und auf den Stoff im Trog einschlugen. Genau das hatte Jack an jenem Abend gemeint – eine Mühle, die Tuch walken konnte.
Aliena hörte ihn sagen: »Die Hammerköpfe müssten noch beschwert werden, damit sie fester aufschlagen.« Als sie sich umdrehte, stand er müde, aber triumphierend vor ihr. »Ich glaube, ich habe das Problem gelöst«, sagte er und grinste scheu.
»Ich bin ja so froh, dass dir nichts zugestoßen ist – wir haben uns schon Sorgen um dich gemacht!«, sagte sie. Ohne groß nachzudenken, umarmte und küsste sie ihn; es war nur ein flüchtiger Kuss, aber sobald sich ihre Lippen wieder trennten, umfasste er ihre Taille mit den Armen und hielt sie behutsam, aber fest an sich gedrückt. Sie sah ihm in die Augen. Sie konnte an nichts anderes mehr denken als daran, wie froh es sie machte, dass er unversehrt und am Leben war. Liebevoll drückte sie ihn. Plötzlich war sie sich ihrer eigenen Haut bewusst: Sie spürte ihr raues Leinenhemd und das weiche Fell in ihren Stiefeln, und ihr Busen prickelte bei der Berührung seiner Brust.
»Du hast dich um mich gesorgt?«, fragte er verwundert.
»Natürlich! Ich habe kaum ein Auge zugemacht!«
Sie lächelte glücklich, während er fürchterlich feierlich dreinblickte und sie schließlich mit seiner Laune ansteckte, sodass auch sie sich merkwürdig bewegt fühlte. Sie konnte ihr Herz schlagen hören, und ihr Atem beschleunigte sich. Hinter ihr dröhnten die Hämmer im Chor und brachten die Mühle mit jedem vereinten Schlag zum Zittern; die Erschütterungen gingen ihr durch Mark und Bein.
»Kein Grund zur Beunruhigung«, sagte er. »Mit mir ist alles in Ordnung.«
»Ich bin ja so froh«, wiederholte sie flüsternd.
Sie sah, wie er die Augen schloss und ihr sein Gesicht zuneigte; dann fühlte sie seinen Mund auf ihren Lippen. Er küsste sie behutsam. Er hatte volle Lippen und einen weichen Bart. Sie schloss die Augen, um sich ganz auf das Gefühl zu konzentrieren. Sein Mund bewegte sich auf ihrem, und es schien nur normal, ihm ihre Lippen zu öffnen. Ihr Mund war mit einem Mal überempfindsam geworden, nahm die leichteste Berührung wahr, die kleinste Bewegung. Seine Zungenspitze liebkoste die Innenseite ihrer Oberlippe. Sie wurde von einem solchen Glücksgefühl erfasst, dass sie am liebsten geweint hätte. Sie schmiegte sich an ihn, ihre weichen Brüste gegen seinen harten Brustkorb, fühlte, wie sich seine Hüftknochen in ihren Bauch drückten. Das war nicht mehr bloße Erleichterung darüber, ihn in Sicherheit zu wissen, nicht mehr bloße Freude, dass sie ihn gefunden hatte. Ein ganz neues Gefühl bemächtigte sich ihrer. Seine körperliche Gegenwart erfüllte sie mit einer solchen Ekstase, dass ihr schwindelte. Sie hielt ihn umschlugen, wollte ihn stärker, deutlicher fühlen, ihm noch näher sein. Sie liebkoste seinen Rücken mit ihren Händen. Sie wünschte sich, seine Haut fühlen zu können, aber seine Kleidung war im Weg. Ehe sie sich’s versah, hatte sie ihren Mund geöffnet und war mit ihrer Zunge zwischen seinen Lippen. Er stieß einen kehligen tierähnlichen Laut aus, einen gedämpften Seufzer des Entzückens.
Die Tür der Mühle wurde aufgestoßen, und Aliena riss sich von Jack los. Es überkam sie wie ein Schock; ihr war, als habe sie tief geschlafen und sei durch ein paar Ohrfeigen aufgeweckt worden. Ihr Verhalten erfüllte sie mit Entsetzen – sie hatten sich aufgeführt wie eine Hure und ein Besoffener, die sich im Wirtshaus abknutschten und aneinander rieben! Sie trat einen Schritt zurück und drehte sich um. Am liebsten wäre sie vor Scham im Erdboden versunken: Bei dem Eindringling handelte es sich auch noch um Alfred!
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