Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
als Friedensstifter galt: Er war der Richter der Irregeleiteten und Fehlenden, der Schlichter jeder Streitigkeit. Ihn nun selbst in einen Streit verwickelt zu sehen – parteilich, zornig, verbittert und unnachgiebig – war sehr beunruhigend. Diesmal musste wohl ein anderer die Streithähne dazu bewegen, sich gütlich zu einigen. Und Jack fiel nur ein Einziger ein, der in die Bresche springen konnte: er selbst. Der Dombaumeister war sozusagen der geborene Vermittler zwischen den beiden Parteien, denn sein Beweggrund war über jeden Zweifel erhaben: Ihm lag ausschließlich daran, weiterbauen zu können.
Über seinen Grübeleien verging der Tag. Die entscheidende Frage war und blieb: Was würde Philip tun?
Erst am folgenden Tag fühlte Jack sich imstande, eine Aussprache mit Philip herbeizuführen.
Das Wetter war nasskalt und unangenehm. Am frühen Nachmittag machte Jack sich auf und huschte über die verwaiste Baustelle. Zum Schutz gegen den Regen hatte er die Kapuze seines Umhangs über den Kopf gezogen. Er tat, als prüfe er die Risse im Obergaden (ein noch immer ungelöstes Problem), und wartete, bis er Philip aus dem Kreuzgang kommen und auf sein Haus zueilen sah. Kaum war der Prior hinter der Tür verschwunden, heftete sich Jack auch schon an seine Fersen.
Philips Tür war nie verschlossen. Jack klopfte kurz an und trat ein. Philip kniete in der Ecke vor seinem Hausaltar. Man sollte meinen, dachte Jack, dass er in der Kirche schon genug betet – tagsüber bald jede Stunde, und dann noch mal die halbe Nacht lang –, sodass er zu Hause eigentlich darauf verzichten könnte … Es brannte kein Feuer: Philip sparte an allen Ecken und Enden. Jack wartete stumm, bis Philip aufstand und sich ihm zuwandte. Dann sagte er: »Das muss ein Ende haben.«
Philips sonst so liebenswürdige Miene verhärtete sich. »Das lässt sich ohne Schwierigkeiten bewerkstelligen«, erwiderte er kalt. »Die Männer können ihre Arbeit jederzeit wieder aufnehmen.«
»Zu Euren Bedingungen.«
Philip sah ihm schweigend ins Gesicht.
»Zu Euren Bedingungen werden sie die Arbeit nicht wieder aufnehmen«, erklärte Jack, »und sie werden auch nicht ewig warten, bis Ihr zur Vernunft kommt oder …« Nach einer kurzen Pause fügte er hastig hinzu: »… zu dem, was sie für Vernunft halten.«
»Sie werden nicht ewig warten?«, sagte Philip »Was wollen sie denn tun, wenn sie des Wartens überdrüssig sind? Arbeit finden sie anderswo auch nicht. Oder bilden sie sich ein, nur Kingsbridge hätte unter der Hungersnot zu leiden? Ganz England hungert! Jeder Bauherr im Land muss sparen, wo er kann.«
»Dann wollt Ihr also warten, bis sie auf dem Bauch zu Euch gekrochen kommen und Eure Vergebung erflehen«, sagte Jack.
Philip wandte den Blick ab. »Nein, das will ich nicht«, antwortete er. »Und ich glaube nicht, dass ich Euch jemals Grund zu der Annahme gegeben habe, ich würde dergleichen erwarten.«
»Nein, das habt Ihr nicht, und deshalb bin ich gekommen«, sagte Jack. »Ich weiß, dass Ihr die Männer nicht demütigen wollt – das könnt Ihr nicht wollen, weil es Eurer Natur widerspricht. Im Übrigen würde ihre Leistung – müssten sie grollend und mit dem Gefühl, eine Niederlage erlitten zu haben, zur Arbeit zurückkehren – jahrelang zu wünschen übriglassen. Sowohl Euch wie mir muss also daran liegen, eine Lösung zu finden, bei der sie nicht ihr Gesicht verlieren. Und das heißt, dass wir in gewissen Punkten nachgeben müssen.«
Jack hielt unwillkürlich den Atem an: Das war sein überzeugendstes Argument, der entscheidende Punkt des ganzen Streits. Wenn Philip unnachgiebig blieb, sah die Zukunft düster aus.
Philip starrte ihn eine ganze Weile lang wortlos an, und in seiner Miene spiegelte sich seine innere Zerrissenheit wider. Dann endlich entspannten sich seine Züge, und er sagte: »Setzen wir uns erst einmal hin.«
Jack unterdrückte einen Seufzer der Erleichterung und nahm Platz. Er hatte sich seine Worte genau überlegt. Eine aus einer Augenblickseingebung entsprungene Taktlosigkeit wie gegenüber den Handwerkern sollte ihm nicht noch einmal unterlaufen. »Gegen Euren Befehl, kein Baumaterial mehr einzukaufen, ist nichts einzuwenden«, begann er. »Desgleichen nicht gegen das Verbot, neue Leute einzustellen. Außerdem glaube ich, dass die Handwerker sich auch mit den arbeitsfreien Heiligentagen abfinden werden – vorausgesetzt, wir sind ebenfalls zu Zugeständnissen bereit.« Er hielt inne, um Philip Zeit zu
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