Die Saga vom Eisvolk 02 - Hexenjagd
dem Ausläufer des Gletschers, einem breiten Fluß, aber in dem heraufdämmernden Morgen mit einem grauen Himmel und Wolken, die die Sonne verdeckten, sah Tengel, daß die Kinder sich ausruhen mußten. Sie stiegen über die Bergkuppen hinunter zu einer Talsenke, die versteckt neben dem Tal mit dem Wasserfall lag, denn sie wollten nicht von Schergen überrascht werden. Dort richtete Silje im beißenden Morgenwind ein kleines Lager für sie her, und dann krochen sie alle eng, ganz eng unter den wenigen Decken zusammen, die sie mitgenommen hatten.
Die Kinder schliefen augenblicklich ein, wundgelaufen und erschöpft.
Silje hatte ihre Arme um sie gelegt. Tengel schützte sie auf der anderen Seite mit seinem Körper.
»Ich habe nicht vor, Gott dafür zu danken, daß wir gerettet worden sind«, flüsterte sie.
»Warum nicht?«
»Nein, ich habe diese Menschen nie verstanden, die nach einem Unglück, in dem alle anderen umgekommen sind, alleine zurückbleiben. Gott hat seine Hand schützend über mich gehalten, sagen sie. Und was ist mit all den anderen? Ich finde, das ist der Gipfel der Selbstzufriedenheit. So als ob sie mehr wert sind als die, die nicht gerettet wurden! Ich möchte lieber ein Gebet für ihre Seelen beten, findest du das nicht auch richtiger?«
Er stimmte ihr zu. »Du hast vollkommen recht. Nein, du warst nie selbstzufrieden, Silje. Erst die anderen, dann du selbst. Gott oder nicht Gott, ich bin nur zutiefst dankbar, daß ich euch vier jetzt hier habe. Die Gefahr ist noch nicht vorbei, aber wir sind am Leben. Alle fünf.«
»Alle acht«, berichtigte sie ihn schläfrig lächelnd. »Du hast das Pferd vergessen und die Katze und… das Kleine, das noch nicht das Licht der Welt erblickt hat.«
»Alle acht«, wiederholte er, aber in seinem Lächeln lag eine Andeutung von Schmerz.
Und er wagte nicht zu schlafen. Während die anderen für ein paar Stunden die Augen schlossen, lag er wach und lauschte auf mögliche Verfolger.
Es fiel ihnen sehr schwer, wieder in Gang zu kommen.
Sie fühlten sich zerschlagen, durchgefroren und verwirrt in einer unbekannten Welt.
Als sie sich durch ein dichtes Weidengestrüpp kämpften, nutzte Sols Katze die Gelegenheit, um sich davonzumachen, und das kostete sie eine ganze Stunde Zeit, weil sie nach ihr suchen mußten. Aber schließlich kam sie ganz unversehrt hinter ihnen her gelaufen.
Ein paarmal gerieten sie in wirklich brenzlige Situationen.
Zum Beispiel, als sie unerwartet einen steilen Abhang hinunter mußten und das Pferd verweigerte. Da dachte Tengel ernsthaft daran, den Leiden des Pferdes ein Ende zu setzen. Aber Silje und die Kinder bettelten um sein Leben, und wie üblich gab er nach. Die Anstrengung, das Tier herunter zu bekommen, war in jeder Hinsicht eine ungeheure Zumutung. Silje war mehrmals kurz davor, Tengel zuzustimmen, daß es besser sei, das Pferd zu töten. Aber dann war es wohlbehalten unten, und alle riefen hurra. »Bis auf das Pferd«, wie Sol es lächelnd ausdrückte. Tengel mußte das arme Tier sorgsam bandagieren. Aber Silje sah, daß er nach dieser Arbeit noch lange bei dem Pferd stand, seinen Kopf in der Mähne verborgen, also war er wohl doch froh darüber, daß sie ihren alten, treuen Freund behalten hatten.
Langsam veränderte sich die Landschaft, und die Luft wurde etwas wärmer, weil der Eiswind vom Gletscher sie nun nicht mehr erreichte. Und jetzt konnten sie sehen, daß sie dem Tal näher waren als dem Gipfel. Aber an diesem Tag beendeten sie ihren Marsch früh, um die Kleinen zu schonen, und zeitig am Abend schlugen sie ihr Lager in einem engen Seitental auf. Hier standen sogar Fichten und Kiefern um sie herum, und im Moos wuchsen Blumen.
Wieder schliefen die Kinder augenblicklich ein, aber Silje hatte ihre Grenze erreicht, sie war nicht länger in der Lage, die Zähne zusammenzubeißen. Hilflos weinte sie in Tengels Armen - über all die Toten im Tals des Eisvolks, über ihr kleines Zuhause, das sie verlassen hatten, mit all den Möbeln und Sachen, die sie niemals Wiedersehen würden, über die ungewisse Zukunft, und vor lauter Müdigkeit. Und vor Erleichterung, daß sie hinausgekommen waren in die Welt außerhalb des Tals, aber das sagte sie nicht. Sie wollte Tengel nicht dadurch verletzen, daß sie glücklich darüber war, das Tal seiner Kindheit verlassen zu haben.
»Meine Webarbeiten«, schluchzte sie. »Ich habe nichts davon mitnehmen können. Man hängt doch so sehr an dem, was man mit eigenen Händen geschaffen hat. Und
Weitere Kostenlose Bücher