Die Saga vom Eisvolk 02 - Hexenjagd
sie an, mit Augen groß und schwarz vor Kummer.
»Ja, denn es ist doch mein Kind«, versuchte Charlotte sich zu rechtfertigen, aber dann verstummte sie. »Oh«, sagte sie leise. »Ach du meine Güte, das wird schwierig.
Das kann äußerst schwierig werden!«
»Ja«, flüsterte Silje.
Charlotte hatte sich nun besonnen. »Und übrigens würde mein Herr Vater das um nichts in der Welt zulassen. Ihr kennt ihn nicht. Er würde mich augenblicklich aus dem Haus werfen.«
»Aber ein Enkelkind?« sagte Silje schockiert.
»Er hat viele Enkelkinder. Er beachtet sie kaum, wenn sie hier sind, sie sollen nur still sein und sich in einem anderen Zimmer aufhalten. Und dabei sind sie legitime Enkel!«
»Also hattet Ihr einen Grund, das Kind auszusetzen?«
»Ja. Ich war feige und gedankenlos, natürlich, aber damals sah ich keinen anderen Ausweg. Ich habe nicht begriffen, welche Konsequenzen das haben würde. Liebe Silje…
Darf ich Euch Silje nennen? Ich muß nachdenken… Aber diesmal werde ich meinen kleinen Sohn nicht im Stich lassen, seid dessen versichert! Und Euch auch nicht, wo Ihr Euch all die Jahre um ihn gekümmert habt. Aber ich brauche etwas Zeit. Und ich will Eure Geschichte hören, damit ich weiß, was ich tun kann.«
Sie war von neuer Energie erfüllt, hatte einen neuen Glanz in den Augen, der Silje froh machte.
»Eure Mutter, sollte sie nicht davon erfahren?«
Charlotte dachte lange darüber nach. »Ich weiß nicht.
Wißt Ihr, ich kenne meine Mutter im Grunde gar nicht richtig. Ich weiß, was wir machen. Ihr kommt wieder her, sobald ich mir einen Plan ausgedacht habe …«
Silje sah geknickt aus. Charlotte, die am Tisch saß, senkte die Stirn resigniert auf den Handrücken.
»Aber nein, das geht ja nicht, Ihr habt sicher keinen Ort, wo Ihr in der Zwischenzeit bleiben könnt, und es ist eilig, nicht wahr?«
»Ja, das ist es. Wir haben heute morgen unseren letzten Essensvorrat verspeist.«
»Ach, ich kann keinen klaren Gedanken fassen, das ist alles zuviel für mich. Ich möchte ihn sehen, ihm sagen, daß ich es ganz schrecklich bereue, und ihn um Vergebung bitten… Nein, ich weiß nicht, was ich tun soll.«
»Ich muß gestehen, daß ich selbst ganz durcheinander bin«, sagte Silje. »Ich hatte keinen klaren Plan, als ich hierher gekommen bin, es war die blanke Panik, die mich getrieben hat. Wißt Ihr, was ich glaube, Fräulein Charlotte? Ich glaube, daß Eure Mutter es verstehen wird.«
»Glaubt Ihr wirklich?«
»Vielleicht nicht sofort. Aber wenn meine Tochter so gelitten hätte, wie Ihr es getan habt, würde ich alles tun, um ihr zu helfen. Ich würde wohl auch schockiert sein, ja vielleicht würde ich sie auch zunächst ausschimpfen und bestrafen, aber dann würde ich ihr doch helfen. Ich glaube, wir brauchen den Beistand einer reifen Frau, um dieses Durcheinander zu entwirren. Ist Euer Vater daheim?«
»Nein, er ist unterwegs und bereist den Bezirk. Er wird erst in einigen Tagen zurück sein.«
Sie fügte ein kleines »Gottseidank« hinzu, das gewiß nicht für Siljes Ohren bestimmt war, so hingehaucht, wie es war.
Silje schwieg und wartete. Der Lärm von der Straße drang nur schwach durch die hohen Fenster mit den Samtvorhängen. Die Rufe der Verkäufer, wiehernde Pferde…
»Gut!« sagte Charlotte. »Ich muß stark sein. Ich bin allzu lange feige gewesen. Ich werde jetzt meine Mutter holen und außerdem Bescheid sagen, daß wir ein paar Erfrischungen wünschen. Ist es lange her, daß Ihr etwas gegessen habt?«
»Gestern abend. Eine Brotkruste.«
»Was? Ich werde sofort etwas heraufkommen lassen. Es ist besser, wir bleiben hier, damit die Diener nicht lauschen können.«
Sie hielt einen Moment nachdenklich inne. »Sollte ich meinen eigenen Sohn verleugnen? Oh nein, diesmal nicht, nein!«
Voller Tatkraft - und sehr nervös - ging sie zur Tür.
»Vielleicht wollt Ihr allein mit Eurer Mutter sprechen?«
»Nein, Ihr müßt dabei sein, sonst wage ich es nicht. Und dann müssen wir alles über die vergangenen fünf Jahre erfahren! Ich weiß ja auch gar nichts über Euch, wer und wie Ihr seid.«
Silje stand am Fenster und wartete. Verblüfft bemerkte sie, daß ihre Hände zitterten. Aber das war vielleicht gar nicht so verwunderlich.
Sie betrachtete ein Nähtischchen, das an der Fensterwand stand. Es hatte kunstvolle Intarsien und schmale Beine und war sehr zierlich. Jedes Detail in dem Raum war perfekt, erlesen. Sie strich über die gelbe Ledertapete und fragte sich, wie sie wohl
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