Die Saga vom Eisvolk 02 - Hexenjagd
abend noch erreichen könnten. Wir wollen doch den Jungen sehen, nicht wahr, Charlotte?«
»Oh ja!«
»Nein, seid nicht beunruhigt, kleine Silje, wir werden uns nicht zu erkennen geben, nur guten Tag sagen und ein wenig mit ihm reden. Wir werden morgen früh alle gemeinsam die Kutsche nehmen. Jetzt sollt Ihr ein Zimmer erhalten, damit Ihr heute nacht ausschlafen könnt, und in der Zwischenzeit werden Charlotte und ich die Vorbereitungen treffen. Und… denkt nicht länger an Abelone, ich kenne sie von einigen Festen hier in Trondheim, die ich früher einmal besucht habe. Eine schrecklich Aufgeblasene aus dem Bürgerstand. Ich habe einflußreiche Freunde hier. Für die Aufständischen kann und will ich nichts tun, aber ich werde dafür sorgen, daß der alte Maler aus dem Gefängnis kommt und Abelone zurück in ihr Haus hier in der Stadt gejagt wird.
Selbstverständlich sollen die lieben Menschen ihr Zuhause zurückbekommen! Auch die alten Damen.«
»Mutter!« sagte Charlotte verwundert. »Ich wußte gar nicht, daß Ihr so… » Die Mutter legte den Zeigefinger an die Lippen. »Nun mußt du schön still sein! Ich tue das, weil es mich geschmerzt hat, meine Tochter so viele Jahre lang unglücklich zu sehen. Ich bilde mir ein, daß dies die Rettung für dich sein könnte. Und für mich… Das Leben hier in Trondheim und in diesem Palast ist todlangweilig, Charlotte, und das hat mich angesteckt, so daß meine schlechten Seiten die Oberhand gewonnen haben. Aber heute bin ich daran erinnert worden, daß ich früher einmal anders war. Endlich habe ich einmal Gelegenheit, etwas zu tun. Und etwas Gutes dazu! Benedikt und seine Leute haben sich in einer schwierigen Zeit um mein Enkelkind gekümmert. So etwas tut man nicht ungestraft«, lächelte sie.
Silje war ein einziges, leuchtendes Strahlen.
Sie bekam ein kleines Schlafzimmer mit dunklen Paneelwänden, geschwungenen grünen Fenstern und geschnitzten Bettpfosten. Sie hatte nicht geglaubt, daß sie Schlaf finden würde, so aufgeregt, wie sie war, aber sie fand ihn.
Ihr letzter Gedanke war: Was mag die Baronin sich wohl ausgedacht haben? Es gibt keine einfache Lösung für uns, gewiß nicht!
Charlotte von Meiden dagegen schlief nicht. Nach einem langen Gespräch mit ihrer Mutter ging sie in ihre Gemächer zurück. Dort kniete sie nieder zu einem innigen Gebet.
»Danke!« flüsterte sie immer wieder in den dunklen Raum. »Danke! Oh, großer Gott, ich danke dir!«
Und die Tränen strömten ihr die Wangen hinunter. Sie weinte so heftig, daß ihr die Brust schmerzte.
Aber es tat so unendlich gut!
5. KAPITEL
Wenn das Baron von Meiden gewußt hätte, daß die Frauen seine nagelneue Prachtkutsche nahmen und aus der Stadt hinaus Richtung Süden fuhren! Aber er war in Nord-Trandelag und würde es niemals erfahren.
Der prächtige Wagen, der schwer und unförmig war und keine Federung besaß, der aber vor Wohlstand glänzte, war vollgepackt mit Nahrungsmitteln und kleinen Kleidchen, die Mutter und Tochter aus Kisten und Truhen hervorgesucht hatten. Kleidung, für die im Palast niemand mehr Verwendung hatte.
Silje saß den beiden Frauen gegenüber und sah hinaus in den strahlenden Sommermorgen, auf die Blumen am Wegesrand und die üppigen Wiesen. Sie hätte so gerne gewußt, welchen Plan die beiden gefaßt hatten, aber sie wollten zuerst mit Tengel reden - und natürlich den Jungen sehen.
»Wieviel weiß der Kleine?« fragte Charlotte, deren Augen vom nächtlichen Weinen ganz verschwollen waren. Sie war so nervös, daß ihre Hände zitterten.
Silje, die sich angesichts der vornehmen Gesellschaft wieder einmal ihrer einfachen, abgetragenen Kleider bewußt wurde, antwortete mit einem kleinen Lächeln:
»Ja, das ist recht merkwürdig. Bis vor einer Woche wußten weder er noch Sol, daß sie nicht unsere leiblichen Kinder sind. Aber sie sehen sehr verschieden aus, und deshalb begann Sol, sich ihre eigenen Gedanken über bestimmte Sachen zu machen - unter anderem wurden sie von den Nachbarskindern »Wechselbälger« geschimpft - und wir entschlossen uns, ihnen die Wahrheit zu sagen.
Nun ja, nicht die ganze Wahrheit«, sagte sie rasch, als sie Charlottes Reaktion sah. »Was Dag betrifft, so habe ich ihm nur erzählt, daß seine Mutter eine sehr vornehme Adelige war, die ihn verloren hatte, als er noch ganz klein war. Wie klein, das habe ich ihm nicht erzählt. Daraufhin fragte er sich, ob seine Mutter wohl nach ihm suchen würde, und deshalb habe ich gesagt, daß sie
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