Die Saga vom Eisvolk 02 - Hexenjagd
Bequemlichkeit für sie riskierte, vielleicht sogar sein kostbares Leben.
Die Reise durch die bewohnten Gegenden hinauf zum Dovregebirge ging relativ gut. Silje und die Kinder saßen zusammen mit Charlotte und ihrer Kammerzofe in dem einfachen Gefährt mit dem halbrunden Lederdach, während Tengel neben ihnen oder an der Spitze des Zuges ritt, je nachdem, wie das Gelände es zuließ. Das Gepäck war so klein gehalten wie möglich. Die große Schiffsladung war praktisch Charlottes gesamte Brautaussteuer, denn die würde sie kaum mehr für einen anderen Zweck als diesen benötigen.
Das Wetter war gut, und obwohl die Wege - oder besser gesagt, Pfade - so schlecht waren und dem Wagen jegliche Federung fehlte, so daß sie sich nach zwei Tagen vollkommen zerschlagen fühlten, beklagte sich keiner von ihnen. Alles war ja so aufregend. Silje war die einzige, die Todesängste ausstand. Jedesmal, wenn der Wagen durchgerüttelt wurde, spannte sie innerlich alle Muskeln an, damit das kleine Leben in ihr keinen Schaden nehmen sollte.
Tengel bemerkte es. Aber sein Gesichtsausdruck verriet nichts von dem, was in ihm vorging.
Drei Reiter führten den kleinen Zug an, und drei beschlossen ihn. Außerdem führten sie vier gesattelte Pferde mit, falls sie den Wagen zurücklassen mußten.
Das mußten sie schon sehr bald, und zwar tatsächlich an dem gefürchteten Gemsenpfad im Drivdal. Dort verabschiedete der Kutscher sich und wünschte ihnen eine gute Reise. Dann wendete er den Wagen, um sich auf den Heimweg zu begeben - die ganze qualvolle Strecke zurück über brückenlose Flüsse, durch dichtes Gestrüpp auf schmalen Reitpfaden, durch sumpfiges Gelände und dunkle Wälder.
Es dauerte eine Weile, bevor sich Frauen und Kinder auf die Pferde verteilt hatten, und dann begann ein albtraumhafter Ritt über schmale Pfade entlang an schwindelerregenden Abgründen. Manchmal mußten die Pferde sich an zerfurchten Felswänden entlangdrücken, am Rande einer tiefen Schlucht, auf deren Grund unten die Driva schäumte, und oft mußten Pferd und Reiter über schmale Berggrate balancieren, links und rechts den Abgrund vor Augen. Die meisten von ihnen zogen es vor, abzusteigen und zu Fuß über die schmalen Kämme zu gehen - es erschien ihnen sicherer, den eigenen Beinen zu vertrauen als denen ihres Pferdes.
Langsam wurde der Pfad etwas breiter, und die Schluchten verschwanden. Die Luft wurde dünn und frisch. Ihnen begegneten keine Menschen auf dem Weg, und zum Glück auch keine Raubtiere. Nur ein paar Raubvögel kreisten hoch über ihnen, als sie die ersten schneebedeckten Berggipfel am dunstigen Horizont auftauchen sahen.
Aber die lähmende Angst, die sie an den Abgründen entlang des Gemsenpfades empfunden hatte, saß noch immer in Silje, die Sol vor sich auf dem Pferd hatte. Sie war vollkommen erschöpft von der Anstrengung, alle drei Kinder zugleich im Auge zu behalten. Es war, als ob sie den anderen Erwachsenen nicht vertraute, obwohl die sicherlich mehr Erfahrung damit hatten, auf Kinder aufzupassen, als sie selbst. Es waren ja mehrere starke Männer darunter. Jetzt konnte sie gar nicht die großartige Landschaft zu ihren Füßen bewundern. Ihre Ohren nahmen kaum die Erklärungen wahr, die über die Berggipfel in ihrem Gesichtskreis gegeben wurden - Snahetta, Rondane und all die anderen Namen, die so schnell aus ihrem Gedächtnis verschwanden, wie sie hineingekommen waren.
Es war, als hätte sie eine Art Nebel vor Augen. Erst viel später, als jemand sie nach der Reise fragte, merkte sie, daß sie nichts mehr von ihrem Treck über das Gebirge wußte.
Trotzdem mußte ja irgend etwas geschehen sein. Sie hatte eine undeutliche Erinnerung daran: Als sie endlich die grünen Hochebenen auf dem Dovre erreichten, mußten sie alle eine Ruhepause einlegen, sie ließen sich ins Gras sinken und atmeten tief aus vor Erschöpfung und überstandenem Schrecken.
Silje fühlte, wie ihr Kinn bebte und ihre Zähne aufeinander schlugen, solche Angst hatte sie um die Kinder gehabt. Auch Tengel war blaß, wie sie sehen konnte, als er dort mit Liv auf dem Schoß saß und sein Kinn auf ihr kupferbraunes Haar stützte. Tengel behandelte alle drei Kinder gleich. Aber Silje wußte, daß er seine eigene Tochter Liv über alle Maßen liebte. Er würde es niemals offen zeigen - aber sie hatte ihn beobachtet, wie er sich über das Bett seiner schlafenden Tochter beugte, und auf seinem Gesicht hatte ein Ausdruck glückseliger Verwunderung darüber gelegen, daß er
Weitere Kostenlose Bücher