Die Saga vom Eisvolk 02 - Hexenjagd
auch.«
Dag schlug mit der Handfläche gegen die Wand. »Mutter Silje soll mich malen, weißt du das schon? Dann wird mein Bild auch hier aufgehängt, am Ende der langen Reihe alter, trauriger Greise.«
Sie lachten lustig bei dem Gedanken und gingen von Portrait zu Portrait, um jedes ziemlich deutlich zu kommentieren.
Dag wurde ernst. »Hinterher komme ich natürlich zurück. Hier habe ich euch alle, und das Schloß gehört dann mir, wie du weißt.«
»Das ist gut, daß du zurückkommst«, sagte Liv. »Dann habe ich jemanden zum Spielen.«
»Erwachsene spielen doch nicht!«
»Ach nein, das tun sie sicher nicht. Das ist schade.«
Sie sahen durch eines der hohen, schmalen Fenster der Galerie nach draußen.
»Schau mal, da ist der komische Herr Johan unten bei uns auf dem Hof, sagte Liv. »Er geht hin und her und hat die Hände auf dem Rücken.«
»Er sieht unruhig aus«, sagte Dag. »Wie eine Henne kurz vor dem Eierlegen. Jetzt bleibt er stehen und sieht zum Wald hinüber. Wie lange will der eigentlich noch bleiben?«
»Er hat gesagt, daß er bald Weiterreisen will. Das wäre wirklich schön, denn wir können jetzt fast keinen Schritt unbeobachtet tun, immer fragt er und fragt. Irgendwie ist er merkwürdig, findest du nicht?«
»Na, und ob. Weißt du was? Wir holen uns einen Spiegel und blenden ihn, ja?«
»Oh ja, das machen wir!«
Aber der einzige Spiegel, den sie fanden, reichte vom Boden bis zur Decke, deshalb gaben sie diesen Gedanken auf und wanderten weiter durchs Schloß.
Nach einer Weile kamen sie hinauf in den Turm. Es war kein beeindruckender Turm, nur ein schmaler, rechteckiger Raum über dem Portal, mit einem kleinen, spitzen Dach darüber. Aber Liv und Dag standen gerne dort, die Ellbogen auf die Fensterbank gestützt - die immer voller Taubendreck war - und sahen weit hinaus über das Anwesen.
Von hier oben sah alles so klein aus. Den Lindenhof konnten sie von hier aus nicht sehen, nur das letzte Stück der Lindenallee. Aber die Kirche und den See und den Weg…
»Guck mal da!« sagte Liv. »Schau nur, was da aus dem Wald heraus kommt!«
»Oj!« sagte Dag. »Was in aller Welt ist das denn?«
»Ein Glück, du siehst das auch«, sagte Liv erleichtert.
»Manchmal habe ich schon gedacht, ich sehe Dinge, die andere nicht sehen können. Und das da sieht abscheulich aus.
Dag grinste. »Du mußt dich nicht von Tengel und Sol beeinflussen lassen! Was du siehst, sind ganz normale Dinge, und du machst daraus die unglaublichsten Sachen.
Du siehst überall Gespenster, mitten am hellichten Tag.
Das hast du von Silje geerbt, sagt Tengel, und nicht von ihm.«
»Ja, sicher habt ihr recht«, sagte sie ein wenig beschämt, denn Liv wollte so gerne dieselben Eigenschaften haben wie die beiden, und da war es recht verlockend, die unterschiedlichsten Geschichten zu erfinden. Finstere, sensationelle Geschehnisse, an die niemand glaubte.
Dag sah hinunter auf den Weg. »Das ist eine Prozession, weißt du.«
»Ja, aber warum gehen sie so?«
Sie betrachteten den finsteren Zug.
Es war das Düsterste, was sie jemals gesehen hatten.
Männer in schwarzen Umhängen ritten auf schwarzen Pferden an der Spitze des Zuges. Der Wind blähte ihre Umhänge, so daß sie aussahen wie Fledermäuse. Hinter ihnen folgte eine Gruppe todernster Männer, die zu Fuß gingen, auch sie mit Kurs auf die Kirche. Die Kinder konnten sehen, daß ein paar gefesselte Menschen in einem Wagen saßen, der von grauschwarzen Pferden gezogen wurde. Danach kam die Gemeinde, ebenso dunkel gekleidet und würdevoll. Von dort oben sahen alle aus wie kleine Puppen.
»Du hast recht«, sagte Dag mit unwillkürlich gedämpfter Stimme. »Man könnte meinen, es wären Gespenster. Wie ein Gefolge aus vergangenen Jahrhunderten. Aber das sind sie nicht.«
Dag war immer sachlich und allwissend.
»Was meinst du, was haben sie getan?« flüsterte Liv.
»Tja, das kann alles mögliche sein. Mord, Diebstahl, Ketzerei… Ich weiß nicht. Sie sollen wohl gehängt werden.«
»Da ist auch eine Frau dabei.«
»Wahrscheinlich eine Hexe.«
»Sag so etwas nicht!« keuchte Liv und tastete nach seiner Hand.
Dag verstand. Ihre Gedanken gingen in dieselbe Richtung.
Hand in Hand standen sie dort und betrachteten die makabre Prozession. Sie konnten von fern das Knirschen der Wagenräder hören. Sonst war alles still. Es schien, als würde sich niemand mit seinem Nebenmann unterhalten.
Eine verbissene Schweigsamkeit lag über dem Zug. Die Zielgerichtetheit der
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