Die Saga vom Eisvolk 03 - Abgrund
Gehirns empor, Gesichter, die alle einen gemeinsamen Zug trugen. Einen Zug von Bosheit, Einsamkeit und Trauer. Häßliche Gesichter, ab und zu ein hübsches dazwischen, und auch wenn Sol nicht begriff warum, so wußte sie doch, daß sie aus unterschiedlichen Zeiten stammten.
Sie ging in der Zeit zurück! Es waren die Verdammten des Eisvolkes, die sie sah. Ihre eigene Familie. Ihre Vorfahren. Hanna gehörte nicht zu ihren direkten Vorfahren, doch es war nicht verwunderlich, daß Sol Hanna gesehen hatte - denn Hanna kannte sie aus ihrem wirklichen Leben. Das, was sie hingegen jetzt zu Gesicht bekam, waren Verstorbene, von denen sie vermutlich in direkter Linie abstammte.
Sol holte tief Luft. Es war, als befinde sie sich im Dämmerschlaf. Sie war gespannt, verspürte zugleich jedoch eine Angst, die ihr neu war.
Sie glitt tief in den Dämmerzustand hinein, wußte nicht mehr, daß alles Traumbilder waren. Sie hielt diese Erscheinungen für Wirklichkeit.
Sie konnte auch etwas von der Umgebung erkennen, wenn auch viel undeutlicher als die Menschen. Es war vielmehr nur ein Sinneseindruck. Von einem unsagbar bitteren Lebenskampf in dem unwirtlichen Tal des Eisvolkes. Not, Sorge, Hoffnungslosigkeit - und eine verzweifelte Sehnsucht. Tengel und Silje waren also mit ihrer Sehnsucht nach lebendiger Menschlichkeit nicht allein gewesen.
Wie grotesk sie waren, diese namenlosen Gestalten aus längst vergangenen Zeiten. Es waren nicht so viele - die besonderen Familienmerkmale waren nur sporadisch aufgetreten. Im Durchschnitt einmal pro Generation, hatte Tengel ihr erzählt, l lud gewiß sah sie auch liebe und freundliche Gestalten, doch die glitten so schnell vorüber, als solle sie absichtlich nur die Betroffenen aus ihrer Familie sehen, - oder wollte es womöglich selber so.
Da kam ein unbeschreiblich schöner Mann zum Vorschein. Er trug etwas. Dem Himmel sei Dank, es war angenehm, daß die Augen auch einmal auf etwas Anziehendem ruhen konnten! Doch auch er hatte die gelben Augen, diese teuflischen Gesichtszüge, und ein so boshaftes Lächeln, daß Sol zusammenzuckte, obwohl sie doch viel vertragen konnte.
Aber dies hätte ein Mann für sie sein können, dachte sie. Wäre sie einem solchen Mann begegnet, hätte sie sich dann vielleicht verlieben können?
Sie war sich nicht sicher. Vielleicht bekam Sol jetzt einen vagen Eindruck davon, wie zerrissen sie innerlich war. Wie hart und schrecklich es war, menschliche Züge vermischt mit dem Erbe des Bösen in der Familie zu haben. Der schöne, unglaublich faszinierende Mann, dem sie direkt in die Augen starrte, war einer der wenigen Glücklichen unter ihren Vorfahren. Er war durch und durch schlecht! Und sie begriff, welche bodenlose Tragödie die aller meisten in der Familie durchlebt haben mußten. Tengel vielleicht am allerschlimmsten. Er jedoch war stark genug gewesen, um eine Seite zu wählen. Hanna ebenso, die andere Seite. Aber war Hanna denn nur böse gewesen? War sie das? Gerade in dem Moment, als der schöne Mann verschwinden wollte, erkannte Sol, was er in der Hand hielt. Es war der Kopf einer Frau, ein abgeschlagener, starrender Frauenkopf. Und Sol wußte, daß er es war, der die Frau getötet hatte. Es erschienen noch einige Gestalten. Unglückselige Gestalten aus einer verschwundenen Zeit. Eine Frau und dann ein Mann, gekleidet in einfache Gewänder und lange Hosen, wie sie sie noch nie gesehen hatte.
Mit einem Mal zuckte Sol heftig zusammen. Unbewußt klammerte sie sich am Gras fest.
Aus der Dunkelheit wuchs etwas hervor. Etwas, vor dem alle anderen Gestalten zurückwichen. Ein Paar stechende Augen starrte Sol an, voller Haß.
Sie hatte das Gefühl, sie müsse ertrinken, könne es nicht mehr aushalten. Sie zwinkerte heftig mit den Augen, um dem Anblick zu entkommen, aber es half nichts, die Bilder kamen aus dem Inneren einer atavistischen Zelle in ihr selbst, in der sie seit Generationen abgelagert worden und seither noch nie gebraucht worden waren. Sie schnappte nach Luft und schrie, als mußte sie ersticken.
Die anderen hörten sie schreien, waren aber allzu berauscht, um etwas unternehmen zu können. Außerdem hätten sie auch nichts tun können, die Visionen mußten ihren Lauf nehmen.
Sie begriffen aber, daß die junge Frau etwas ungewöhnlich Entsetzliches gesehen haben mußte. Ihnen waren ebenfalls ihre Vorfahren begegnet. Sie hatten nicht direkt mit ihnen kommunizieren können, doch sie konnten immerhin aus deren Existenz Mut und Inspiration
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