Die Saga vom Eisvolk 03 - Abgrund
Sofa gesetzt hatten. »Wobei denn?« »Beim Examen, selbstverständlich!«
Examen? Das hatte er ganz vergessen.
»Doch, ausgezeichnet, danke! Nun habe ich eine juristisch« Ausbildung höchsten Grades und zwischen den Ämtern reiche Auswahl. Nein, ich will zwar nicht prahlen, aber ich habe als Bester abgeschlossen.«
»Ich wußte es doch!« strahlte Charlotte. Sie konnte sich nicht satt sehen an ihm. Wie erwachsen er geworden war! »Ich wußte, daß du es schaffen würdest. Ich bin schließlich auch nicht ganz dumm, weißt du, da hast du etwas mit mir gemeinsam«, lachte sie herzlich.
»Das weiß ich. Ihr habt uns schließlich alle unterrichtet, Mutter. Doch die Jahre an der Universität waren hart. Ein Student ist nicht viel wert, schon gar nicht, wenn er den untergeordneten Fakultäten angehört. Pastor zu werden, scheint in diesem Leben das einzig Seligmachende zu sein. Und obendrein, als wir uns immer bei Beerdigungen einfinden und eine Art Ehrenwache bilden mußten. Je größer die Wache, um so vornehmer der Leichnam. Das kostete so viel Zeit, die wir sonst zum Studieren hätten nutzen können. Aber am Ende ging alles gut.«
Dann schwieg Dag. Er saß tief in Gedanken versunken und antwortete nur mit ja oder nein, während Charlotte vom Leben auf Grästensholm erzählte. Sie lehnte sich vor. »Was ist los, Dag? Du siehst so bedrückt aus.«
Er machte den Rücken gerade und seufzte schwer. »Ja, Mutter. Ich befürchte, Ihr habt in bester Absicht eine fürchterliche Tragödie verursacht.«
Sie wurde rot im Gesicht. »Ich? Was meinst du damit?«
»Ihr habt einmal auf Lindenallee von dieser Baronesse Trolle erzählt, die ich enpassant erwähnt habe, nicht wahr?« »Ja«, antwortete Charlotte verwirrt. »Was ist aus der Sache geworden?«
»Nichts. Da war nie etwas - nicht mehr, als daß ich sie reizend fand und stolz darauf war, daß sie sich mit mir unterhalten wollte. Es ist also auch meine Schuld, ich hätte sie nie erwähnen sollen.« »Schuld? Ich verstehe nicht.«
»Es war zu der Zeit, als Berenius Liv den Hof machte, nicht wahr? Und er wurde ihr hier auf Grästensholm vorgestellt, stimmt es nicht?«
Charlotte dachte nach. »Doch, so wird es wohl gewesen sein. Warum fragst du?«
Dag erhob sich und schritt im Zimmer auf und ab. »Und ich habe erfahren, daß Liv ihn zu heiraten gedachte. Daß sie bereits ja gesagt hatte.«
Die Mutter wurde immer verunsicherter. »Ja, das war für die kleine Liv eine unglaublich gute Partie.«
In dem Moment entdeckte sie die tiefe Trauer in Dags Gesicht und wurde von Sorge ergriffen.
»Liv ist mit einem gewalttätigen Ehemann verheiratet, Mutter! Mit einem wirklichen Haustyrann!« Charlotte wurde ganz stumm, entsetzt.
Er begann erneut, auf und ab zu gehen. Dann blieb er stehen und schlug mit der Faust gegen den Fensterrahmen. »Oh, Mutter, Ihr hättet sie jetzt sehen sollen. Sie ist ein kleiner, zitternder Schatten ihrer selbst! Ihre Schwiegermutter kommandiert sie von morgens bis abends herum. Sie darf ihre Familie nicht sehen, und ihr Mann züchtigt sie, korrigiert alles, was sie gelernt hat - und er peitscht sie, wenn sie zu behaupten wagt, daß sie klüger ist als er.«
»Was sagst du da, Junge?« rief Charlotte verzweifelt. »Was sollen wir nur tun? Oh, Gott, was sollen wir nur tun? Tengel…«
»Nein, nicht Tengel! Er wird Laurents umbringen, und das darf nicht geschehen. Um Tengels willen! Wir müssen darüber sprechen, Silje, Sol und wir beide. Etwas muß geschehen. Sol bat mich, zu warten, aber ich mußte mit Euch darüber sprechen.«
»Ja. Natürlich! Oh, mein Gott, was habe ich getan? Aber ich konnte doch nicht ahnen… Oh, das arme Kind! Niemand auf der Welt ist so liebenswert wie Liv.«
»Da stimme ich Euch zu! Sagt aber auf Lindenallee nichts, noch nicht! Laßt Sol und mich das Tempo bestimmen. Liv hat solche Angst vor Streit.«
»Ich verspreche es.«
Lange blieben sie still sitzen und waren in ihre eigenen Gedanken versunken.
»Wie ist es Sol in Kopenhagen ergangen?« fragte Charlotte schließlich.
»Sol? Sie ist wie ein Katze - sie fällt immer wieder auf dir Füße.«
»Dann ist sie also in Schwierigkeiten geraten?«
»Das mußte sie wohl, auch wenn sie sich durch ihren einnehmenden Charme aus allem wieder herausmanövriert. Sol ist so verdammt unvorsichtig!«
»Fluche nicht, mein Junge!«
»Ha! Dann müßt Ihr einmal Sol hören, wenn sie loslegt!« »Ja, das kann ich mir problemlos vorstellen«, sagte Charlotte matt.
Unten auf
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