Die Saga vom Eisvolk 03 - Abgrund
Lindenallee wurde Sol mit offenen Armen empfangen.
»Nein, aber Silje! Nun mußt du aber aufhören mit den Honigkuchen!«
Tengel legte den Arm um Siljes Taille. »Das ist doch ganz kleidsam.«
»Vorläufig ja, da stimme ich dir zu. Aber ich habe schon ziemlich viele wohlgenährte Matronen gesehen. So eine möchte ich zu Hause nicht haben.«
»Das ist nicht so einfach«, lachte Silje schamerfüllt. »Aber du hast ganz recht, mir geht es wirklich zu gut. Tengel, wenn du siehst, daß ich zu einem Kuchen greife, dann nimm ihn mir weg und gib ihn den Armen! Aber was ist das für ein kleines Mädchen, das du mitgebracht hast, Sol?« Die Frau in Silje war schwer von Sols undiplomatischer Kritik getroffen, und sie gelobte sich selbst, sich dem nicht mehr auszusetzen. So hatte Sol damit doch eine gute Tat vollbracht. Sol stellte die zu Tode beschämte Meta vor und erzählte in groben Zügen ihre Geschichte. Das schrecklichste Erlebnis ließ sie aus, wegen Meta.
Silje und Tengel wurde sogleich von dem tiefsten Mitgefühl für das heimatlose Mädchen ergriffen, und versprachen ihr stehenden Fußes, daß sie eine Anstellung als Dienstmädchen bekommen sollte.
Meta fragte so vorsichtig wie möglich, ob sie im Kuhstall arbeiten dürfe, wenn sie dort jemanden brauchen konnten. Denn sie fand, daß dieses Haus für sie viel zu fein war. »Aber was hast du denn in Skäne gemacht, Sol?« fragte Tengel mißtrauisch.
»Bekannte besucht«, antwortete sie unverzagt.
»Ach, wirklich? Nicht etwa bei Brösarps Backar, oder?« Verdammt aber auch, dachte Sol. Dann hat auch er von den Hexen dort gewußt?
»Nein, wie kommst du darauf?« sagte sie. »Um ganz genau zu sein, war es bei Tollarp.«
»Bist du dort in Schwierigkeiten geraten, Sol?« »Schwierigkeiten? Wieso denn?«
»Ich bekam eine… Botschaft von dir. Silje und ich haben versucht, dir zu helfen.«
Sol bückte sich und wühlte in ihrer Reisetruhe.
»Das ist euch gelungen«, murmelte sie. »Danke. Vielen Dank!«
Tengel und Silje wechselten Blicke.
»Du willst nicht darüber reden?« sagte Tengel.
»Nein«, antwortete Sol. »Ich habe etwas Dummes angestellt. Und ich werde das nie wieder tun. Da kannst du ganz sicher sein.«
»Einmal kannst du es mir ja vielleicht erzählen?« sagte Tengel leise. »Ich möchte es gern wissen, verstehst du. Denn ich hatte den Eindruck von… von einer Gestalt, deren Namen ich nur sehr ungern aussprechen möchte.« Sol schaute ihm lange in die Augen. Genau in diesem Moment fühlten sie, wie nahe sie sich standen in diesem Unbeschreiblichen, das andere nicht begreifen konnten. Dann nickte sie. »Irgend wann einmal werde ich es erzählen. Das verspreche ich. Jetzt ist es noch zu früh.«
»Da kommt Are«, sagte Silje zur Ablenkung. »Are! Sieh mal, wer nach Hause gekommen ist! Und das ist Meta, sie wird hier wohnen. Meta, wenn du etwas über die Arbeit im Stall wissen willst, dann brauchst du nur Are zu fragen. Das ist sein Revier.«
Meta blickte scheu den kräftigen, hochgewachsenen Jungen an, der Tengel so ähnlich sah - abgesehen davon, daß er nicht Tengels dämonische Augen besaß.
»Ja, wann kann ich anfangen?« fragte sie. »Ich möchte gern richtig hart zupacken.«
Are starrte sie erschrocken an. »Was sagt sie? Ich verstehe nicht ein Wort!«
»Versteht Ihr mich nicht, Herr?« flüsterte Meta unglücklich. »Herr? Ich bin vierzehn Jahre alt! Und sie kann ja noch nicht einmal richtig sprechen!«
»Aber Are!« sagte Sol. »Das ist Skänisch. Ein eigener Dialekt, der dem Schwedischen und dem Dänischen ähnelt. Du wirst sie schnell verstehen.«
»Wieso ich? Nie im Leben! Sie muß Norwegisch lernen!« »Nimm sie jetzt mit in den Stall und zeige ihr dein Königreich«, sagte Silje. »Und benimm dich anständig! Wir haben mit Sol einiges zu besprechen, allein.« »Warum darf ich nicht dabei sein?« »Du bist noch nicht erwachsen.« »Ich werde wie ein Kind behandelt!«
»Was willst du eigentlich?« lächelte Silje sanft. »Herr willst du nicht sein und Kind auch nicht. Nimm das Mädchen jetzt mit.«
Hitzköpfig etwas vor sich hinmurmelnd, entfernte er sich mit einer unbeholfenen Meta im Schlepptau.
»Aber um alles in der Welt«, sagte Sol bestürzt. »Das sieht Are gar nicht ähnlich! Er ist doch sonst die Freundlichkeit in Person.« Silje schmunzelte. »Erinnerst du nicht mehr, wie schwer du in dem Alter mit dir selbst zurechtkamst? Mit einem Bein in der Kindheit und mit dem anderen in der Welt der Erwachsenen. Ich jedenfalls
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