Die Saga vom Eisvolk 03 - Abgrund
nicht zum Antworten, denn Dag fuhr dazwischen.
»Ihr Mann muß sie gezwungen haben, das zu schreiben.« Silje sah ihn verwundert an. »Warum denn? Warum sagst du das?«
»Wann ist die Beerdigung?« unterbrach Sol blitzschnell. »Übermorgen.«
Liv ist jetzt allein, dachte Sol. Niemand im Haus - abgesehen von den Toten.
»Ich glaube, Liv braucht uns«, sagte sie ruhig. »Wir fahren hin, alle zusammen.«
Damit war es abgemacht.
Doch sie kamen nicht dazu, nach Oslo zu fahren. Denn es kam ein neuer Bescheid, durch einen Reiter mit einem Eilbrief. Er kam an, als sie zusammen mit Charlotte und Dag die Reisevorbereitungen für den nächsten Tag besprachen. Auch Laurents war tot. Ein tragischer Unglücksfall auf dem Arbeitsplatz und die Beerdigung der Mutter war aufgeschoben worden, so daß Mutter und Sohn gemeinsam begraben werden konnten.
»Oh, arme Liv«, klagte Silje. »Nach so kurzer Zeit ihren Mann zu verlieren!«
Dag, Sol und Charlotte wechselten vielsagende Blicke. Sol nickte.
»Das war wohl das Beste, was passieren konnte«, sagte Dag. Und dann erzählten sie von Livs unglücklicher Ehe. Tengels Gesicht wurde immer weißer.
»Und darüber habt ihr nicht ein Wort verloren? Mein kleines Mädchen!«
»Wir wissen es doch selbst erst seit einer Woche«, sagte Dag.
Silje weinte. »Ich war so oft traurig, weil sie nicht herkam und keinen Besuch von uns haben wollte. Ich habe mich so nach ihr gesehnt. Dann durfte sie also nicht! Oh, Liv, unser kleines Mädchen!«
»Ja, wir tragen an dieser Ehe große Schuld«, sagte Charlotte. »Ich glaube, wir haben Liv diese Ehe eingeredet. Sie hat sich eingeredet, daß Laurents der einzig Richtige für sie sei.« »Morgen früh fahre ich hin«, sagte Silje. »Ich werde ihr bei der Beerdigung beistehen, und dann nehme ich sie mit nach Hause.« »Ich komme mit«, sagte Tengel.
»Ja, macht das«, sagte Sol. »Aber jetzt habe ich Hunger. Ich sehe in der Küche nach, ob noch was zu essen da ist. Wenn sich die Bediensteten schon schlafen gelegt haben, dann mache ich mir selbst etwas.« »Um diese Tageszeit?«
»Warum nicht? Muß man immer nach der Uhr essen? Folgt ihr festgelegten Normen?« Sie verschwand. Es wurde still.
»Sol ist schon eigen«, grinste Are. »Sie hat immer gemacht, was sie wollte. Wir haben schon viel Kummer mit ihr gehabt, aber… «
Dag schaute in die Luft. »Ich glaube, wir haben Sol viel zu verdanken«, sagte er nur.
Die andern schwiegen.
»Ja«, sagte Charlotte, während sie an frühere Erlebnisse dachte. Das Wirtshaus in Dovre. Zwei tote Einbrecher… »Sie liebt ihre Familie über alles auf der Welt«, sagte Silje und erinnerte sich an die kleine zweijährige Sol, die bewirkte, daß Abelones widerlicher Sohn sich mit dem Messer schnitt, nachdem er Silje so sehr gequält hatte. »Für uns würde sie alles tun.«
»Ja«, sagte Dag, während er sich fragte, wieso Livs Schwiegermutter so unerwartet und passend gestorben war. Tengel sagte keinen Ton. Seine Augen verrieten, daß er weit fort war. Er wußte mehr als andere. Er hatte den Kirchendiener hilflos auf die Kirche zutorkeln sehen. Einen Kirchendiener, der gedroht hatte, Tengel wegen des Gebrauchs von Zauberkraft anzuzeigen…
»Sol bat uns, noch ein paar Tage zu warten«, murmelte Dag vor sich hin.
Niemand wollte den anderen in die Augen sehen. Niemand hatte das Bedürfnis, Fragen über den Ritt nach Tonsberg zu stellen…
Alle hatten von der Sache einen unterschiedlichen Eindruck. Allein Sol kannte den gesamten Zusammenhang.
In der Küche versorgte sie sich mit einer ordentlichen Scheibe Brot. Ihre Gedanken waren im Grunde mit der gleichen Sache beschäftigt wie die ihrer Familie.
So hatte sie also noch einen Menschen in einen anderen Bewußtseinszustand befördert.
Begonnen hatte es mit einem gewöhnlichen Spielkameraden aus dem Tal des Eisvolkes. Wenn sie von Abelones Sohn absah, von dem sie sich sagte, daß sie ihn nur zu Übungszwecken benutzt hatte. Von dem Spielkameraden wußte niemand etwas. Er hatte Liv und Dag gehänselt. Alle hatten geglaubt, er sei eines natürlichen Todes gestorben. Ach, beständig mußte sie aufpassen, daß nichts ihren Lieben zustieß oder jemand schlecht von ihnen sprach. Wie wehrlose und naive Kinder standen sie all dem Bösen auf dieser Welt gegenüber. Sie mußte sie beschützen, aufpassen, daß sie in Frieden leben konnten und es ihnen gut ging. Manchmal wurde sie richtig wütend über ihre Unschlüssigkeit!
Dann waren da auch noch die beiden Räuber in
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