Die Saga vom Eisvolk 03 - Abgrund
weiß noch gut, wie schwierig das sein kann. Und du warst auch nicht gerade ein Engel.«
Mit vierzehn Jahren?… Klaus, der Kirchendiener, Herr Johan…
»Ein Engel bin ich nie gewesen«, grinste Sol. »Na, das wird wohl auch bei ihm vorübergehen. Ich kann nicht lange bleiben, ich habe im Auftrage der dänischen Adelsfamilie etwas in Tonsberg zu erledigen. Morgen werde ich dorthin reiten.«
»Aber du kannst nicht allein reiten«, wandte Silje ein. »Liebe Silje! Das ist noch nicht einmal eine Tagestour. Dann übernachte ich bei ihnen und bin am nächsten Tag wieder zu Hause. Was kann mir denn schon passieren, wenn ich auf dem Rücken eines Pferdes sitze?«
»Laß sie reiten«, sagte Tengel. »Sol schafft das schon.« »Ja, aber kannst du nicht ein paar Tage warten«, bat Silje. »Die kleine Meta wird unglücklich sein, wenn du fort bist, bevor sie Zeit gehabt hat, sich hier einzuleben.«
Sol bedachte sich und fand Siljes Gedanken besser als ihren eigenen. Aus anderen Gründen. »Ich warte«, stimmte sie zu. »Gut! Es war lieb von dir, daß du dich des Kindes angenommen hast, Sol.«
»Oh, wenn ihr nur wüßtet, was sie erlebt hat! Aber ich glaube, ich schweige besser um ihretwillen.«
Draußen im Stall führte ein finsterer Are Meta herum. Das arme Mädchen trottete ihm nach und nickte jedes Mal heftig mit dem Kopf, wenn er etwas erklärte. Ihre Augen verrieten, wie beeindruckt sie war, sie sagte jedoch kein Wort. »Kannst du nicht einmal auf eine Frage antworten«, brach es aus Are zum Schluß heraus.
Sie zuckte zusammen, und die Augen liefen vor Tränen über. »Trau mich nicht. Euch gefällt meine Sprache nicht, Herr!«
»Herr? Ach, Jesus, gib mir Geduld!«
Nach Sols eindringlichen Bitten verloren Dag und Charlotte keine Silbe über Livs Leiden. Sie wollten keinen Sturmangriff von Tengels Seite riskieren. Das würde all ihre Pläne zunichte machen.
Sol gab vor, nach Tonsberg zu reiten.
Aber das tat sie natürlich nicht.
Nach einigen Stunden stand sie, zwischen zwei Häusern verborgen, direkt gegenüber Berenius' Handelshaus. Es lag nahe des Osloer Hafens, weit von seinem und Livs Wohnhaus entfernt.
Sie ließ sich viel Zeit. Den ganzen Tag über studierte sie alles, was sich vor dem Gebäude abspielte. Mehrere Male beobachtete sie einen jugendlichen Mann, in dem sie Laurents erkannte. Elegant, aber für Sols Geschmack zu geschniegelt und zu selbstsicher. Ein gewisses Maß an Autorität schätzte sie ohne Frage, aber nicht von dieser Art. Sie wollte einen richtigen Mann, einen, dem die Autorität angeboren war, ohne daß er schreien oder brüllen mußte. Einen, den die Autorität wie eine Aura umgab.
Womit Berenius handelte, wurde ihr nie richtig klar. Es hatte bestimmt etwas mit Holz, Bauholz oder dergleichen zu tun. Das einzige, worauf sie sich konzentrierte, waren die Menschen.
Das Haus stand mit der Giebelfront zur Straße. Ganz oben befand sich eine offene Luke. Dort standen einige schwere Säcke, die man wahrscheinlich am Tau hinunterließ, wenn sie gebraucht werden sollten. Die Luke war direkt über der Tür. Laurents stand oft in der Tür und diskutierte.
Sol kehrte am nächsten Tag zurück, stellte sich an dieselbe Stelle - in einen engen Torweg zwischen den Häusern. Passend stand auch ein Busch dort, der sie vor den Vorbeikommenden verbarg.
Er durfte sie nicht entdecken, denn sonst hätte sie auch selbst ins Haus gehen und die Angelegenheit auf leichtere Weise erledigen können. Nichts jedoch durfte ihren Plan in Verbindung mit Liv bringen. Das war Sols erste Voraussetzung.
Viele Jahre hindurch hatte sie geübt, Gegenstände allein mittels ihrer Gedanken in Bewegung zu setzen.
In den frühen Morgenstunden arbeitete sie, bis ihr vor Schweiß das Haar an den Schläfen klebte und das Herz doppelt so schnell schlug. Mittels ihrer Gedanken versuchte sie, einen Sack bis ganz an die Kante zu schieben. Sie konnte nicht wissen, Was sich in dem Sack befand - hoffte nur, daß es etwas recht Schweres war.
Das hatte sie noch nie zuvor versucht - etwas so Großes über eine so lange Distanz hin zu bewegen. Kleine Dosen auf dem Tisch, ja, das war ihr schon gelungen, aber dies hier! Am Ende mußte sie einsehen, daß sie sich zuviel vorgenommen hatte. Sol mußte vorerst aufgeben. Sie mußte ins Haus hinein. Aber wie?
Im selben Häuserblock war ein Kohlenhändler, das war ihr aufgefallen. An die Kohlenhandlung schloß sich ein Hinterhof an. Dort standen Säcke und anderes Gerümpel. Zum Hinterhof
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