Die Saga vom Eisvolk 03 - Abgrund
Warum kannst du nicht sagen, was dich so sehr bedrückt?« Dags Stimme klang fast verzweifelt. »Ich weiß, das etwas ist«, fuhr er fort. »Wir haben es alle gesehen, als wir dich nach Hause holten, und du wirst nicht drüber hinweg kommen, wenn du es nicht offen aussprichst. Sie sind beide tot, Liv! Wovor hast du Angst?«
Sie rang die Hände. »Ich traue mich nicht, es laut auszuspähen.«
»Du mußt! Sonst wirst du es nie überwinden.«
Liv nickte. Sie schwieg eine Zeitlang, und dann begann sie. »Ich fühle mich so schuldig, Dag.«
Er nahm ihre Hand und fühlte, daß sie eiskalt war. »Was meinst du damit?«
»Ich meine nicht, daß ich mir Laurents' Tod direkt gewünscht habe. Aber meine Gedanken kreisten ständig um die fürchterliche Tatsache, daß ich nie aus diesem erniedrigenden Leben herauskommen würde. Und das ist wohl in gewisser Hinsicht dasselbe wie seinen Tod zu wünschen, oder nicht?«
»Nein, das finde ich nicht. Das war deinerseits wohl eher eine Art Resignation.«
»Ja, das war es wohl«, sagte sie zögernd, jedoch etwas erleichtert.
Sie waren stehen geblieben.
»Liv, meine liebe Freundin, versuche, es als eine Phase anzunehmen, durch die du hindurch mußtest! Nimm mich als jemanden, auf den du dich verlassen kannst, jemanden, der immer Zeit und Geduld zum Zuhören hat. Ich möchte dir so gern helfen. Du brauchst keine Angst zu haben, dich zu wiederholen, wenn dir danach ist, du mußt alles Schreckliche aus dem Körper und deiner Seele lassen. Und dann kannst du wieder von neuem beginnen!«
»Oh, Dag!« Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter. »Nie kann ich wieder von neuem beginnen. Ich bin verletzter, als du dir vorstellen kannst.«
Er legte den Arm um ihre Schultern. »Du mußt die Zeit zu Hilfe nehmen, die ist jetzt deine beste Freundin. So - Kopf hoch!«
Er hielt sie etwas von sich und schaute freundlich hinunter in ihre verzweifelten Augen.
Mit einem Mal verflüchtigte sich sein zärtliches Lächeln. Es wurde so still, so still um sie her. Livs Augen weiteten sich, ihre Augen bekamen einen hilflosen Ausdruck.
Dag vergaß das Atmen. Eine Angst vor dem Unverstehbaren erfüllte sie beide in diesem Augenblick der Wahrheit. Liv gab ein verzweifeltes Wehklagen von sich und lief vor ihm davon. Sie lief wie ein verschrecktes Tier über die Wiesen .itif Lindenallee zu.
Dag blieb stehen und schaute ihr nach, er unternahm jedoch keinen Versuch, ihr nachzusetzen. Erschrocken und verwirrt kehrte er nach Grästensholm zurück.
Charlotte stand draußen vor dem Salonfenster und beschnitt die Rosenbüsche, die ihre Mutter vor langer Zeit gepflanzt hatte.
»Na, du kommst allein? Ich dachte, Liv würde mit uns essen.«
Darauf gab er keine Antwort. Blieb nur stehen und starrte auf die Rosen, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Charlotte schaute ihn an. »Was ist los, Dag?« Er schluckte.
»Du brauchst nichts zu sagen«, sagte sie leise und begann wieder, die Rosen abzuknipsen. »Ich habe es schon an dem Tag verstanden, an dem du nach Hause gekommen bist. Als du von den Schwierigkeiten mit Baronesse Trolle und Laurents' ausdauernder Brautwerbung gesprochen hast.« »Ja, das hatte ich wohl damals schon unbewußt im Hinterkopf. Im tiefsten Inneren wußte ich, wie sehr ich mich für sie interessiere. Aber ich hatte mir wohl nicht erlaubt, den Gedanken auch nur zu Ende zu denken. Sie war ja schließlich verheiratet. Aber heute… gerade eben …« Die Mutter wartete, ließ ihn zu Ende sprechen.
»Ich habe es früher nie begriffen, denn wir waren ja wie Geschwister«, sagte er heftig. »Aber wir sind es nicht. Und ich glaube, Liv fühlt genauso, selbst wenn auch sie jetzt fürchterlich erschrocken ist.«
Charlotte nickte. »Ich verstehe. Sie war enttäuscht, von Baronesse Trolle zu hören, und deshalb gab sie dem Druck nach und hat Laurents Berenius geheiratet. Liv ist ja so gefügig. Und du… in Kopenhagen … du warst aufgebracht von der Nachricht, daß sie heiraten wollte. Nicht wahr?« »Ja.«
Er wandte sich so jäh um, daß der Kies knirschte. .Aber Ihr hättet womöglich niemals eine Heirat zwischen Liv und mir zugelassen?« sagte er mit einem Anflug von Aggressivität in der Stimme. »Sie ist schließlich nicht von Adel.« »Dag, liebster Sohn, wie kannst du so etwas sagen? Hast du bei mir je Standesdünkel erlebt?« »Nein, das habe ich zum Glück nie erlebt.«
»Aber gib ihr Zeit, mein lieber Junge! Ich glaube, du mußt ungeheuer vorsichtig vorgehen. Wir alle kennen Livs Ängste nach
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