Die Saga vom Eisvolk 05 - Todsünde
Zuckte er zusammen, konnte alles verloren sein.
Tarjei stocherte mit der Messerspitze in der offenen Wunde.
»Sie ist gewandert«, flüsterte er, »Jetzt sehe ich sie flüchtig unter den Muskeln.« »Kriegst du sie raus?«
»Nicht ohne sein Leben zu riskieren. Aber er hat Glück gehabt. Sie hätte tiefer wandern können. Statt dessen hat sie sich in Richtung Tageslicht bewegt. Oder fast zumindest.«
Cecilie biß die Zähne so fest zusammen, daß es schmerzte. »Unternimm einen Versuch, Tarjei!« »Das werde ich.« »Warum ist alles so entzündet?«
»Durch die Kugel natürlich. Deshalb hatte ich geglaubt, sie würde mit dem Eiter herauskommen. Aber das ist sie nicht. Sie steckt in der Bahn, die sie in seinen Körper genommen hat, die Entzündung ist durchgeschlagen. Ruhe jetzt, nun wollen wir einmal sehen!«
Eine gewaltige Stille herrschte in dem großen Zimmer, in dem die Kerzen einen warmen Schein von den dunklen Möbeln zurückwarfen.
Tarjei wirkte so entsetzlich jung, daß Wilhelmsen wie starr vor Schreck war. Er kannte den jungen Mann oder dessen Großvater nicht, wußte nicht, was sich hinter der hohen, breiten Stirn verbarg, die gerade jetzt in Konzentration gerunzelt wurde.
Tarjeis Finger waren sehr behutsam, als sie sich Zentimeter für Zentimeter voranbewegten. Bisweilen schnitt er vorsichtig ein bißchen weiter und bat um Servietten. Cecilie sah mit Besorgnis, wie der Stapel abnahm. Sie spürte, wie ihr der Schweiß die Stirn hinabrann - durch die starke Wärmeentwicklung der Kerzen und durch nervöse Anspannung. Noch lag Alexander reglos da. So reglos, daß sie die Hand auf seinen Brustkorb legen mußte, um seinen Atem zu fühlen. Doch, er atmete noch.
Dann biß Tarjei die Zähne zusammen und griff mit entschlossenen Fingern zu. Alexander zuckte heftig zusammen. »Haltet ihn fest!« zischte Tarjei.
Aber er sah froh aus, fand Cecilie. Sie ahnte den Grund. Alexander hatte Schmerz verspürt, wo er zuvor wie tot gewesen war!
Sie und Wilhelmsen taten ihr Bestes. Sie drückten Alexanders Oberkörper nieder.
»Ich habe sie«, sagte Tarjei. »Nur noch einen Augenblick!«
Mit der rechten Hand suchte er unter seinen Instrumenten und fand eine Art stark gebogenes Messer. »Ich habe auch vorher schon Kugeln entfernt«, lächelte er ihrem verwunderten Gesicht zu.
Sie hielten den mittlerweile wachen Patienten fest. »Ruhig«, bat ihn Cecilie und beugte sich zu ihm hinunter. »Tarjei ist hier. Er hat die Kugel. Lieg ganz still!« Alexander gab sich alle Mühe. Cecilie spürte, wie sich sein Körper spannte und steinhart wurde, um dem Schmerz zu widerstehen. Der Schweiß sickerte hervor, und deshalb konnte man ihn schlecht festhalten. »Entspann dich«, sagte Tarjei.
Das war leichter gesagt als getan.
Wilhelmsen nahm das Branntweinglas, das er eingeschenkt hatte. Alexander trank schnell einige große Schlucke.
Doch, er hatte schon früher so etwas durchgemacht! Tarjei hätte nun eine Pause einlegen müssen, hielt aber den oberen Teil der Kugel mit den Fingern fest. Das Blut strömte heraus, und Cecilie trocknete unendlich vorsichtig so viel sie erwischen konnte fort, sie machte es wie Tarjei zuvor: Strich das blutstillende Mittel dorthin, wohin ihre Finger reichten…
Dann holte Tarjei ein neues Instrument hervor, eine Art Zange, die er sie bereitzuhalten aufforderte. Er steckte das gebogene Messer vorsichtig hinter die Kugel, nahm Cecilie die Zange ab, packte sie damit von neuem, resolut und schnell. Alexander schrie auf, aber jetzt tat es nichts mehr zur Sache, daß er sich bewegte.
In Tarjeis Hand lag die Kugel! Auf seinem Gesicht ruhte das Licht des Triumphes. Aber nur für eine Sekunde.
»Schnell, Cecilie, halt den Finger hierhin! Und die andere Hand hier, stille das Blut! Drück zu! So fest du kannst.« Alexander verlor das Bewußtsein und versäumte die nächste Phase des Eingriffs. Wie auch Cecilie. Das Zimmer begann sich zu drehen, und sie spürte Wilhelmsens festen Griff um ihren Arm. Dann fand sie sich in ihrem eigenen Zimmer im Sessel wieder.
Dort blieb sie sitzen. Das erschien ihr das Beste zu sein. Alexander gab einen Schrei von sich, offenbar erwachte er durch Tarjeis unsanfte Behandlung.
»Na, na«, sagte der junge Mann barsch. »Ich kann dir sagen, Alexander, im Frühjahr habe ich mit mehreren Stichen das Knie eines kleinen Mädchens genäht. Ohne daß sie sich vorher vollaufen lassen konnte so wie du. Sie hat nicht einen Muckser von sich gegeben! Neun, zehn Jahre war sie
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