Die Saga vom Eisvolk 06 - Das böse Erbe
spüren. Die Gleichgültigkeit. Die Selbstsicherheit… O Gott, er war unbesiegbar!
Kolgrim erhob sich und lief leichten Fußes auf den Abgrund zu. Er konnte fliegen, er fühlte es!
Und jetzt war er in der Lage, das phantastische Ritual zu vollziehen. Es gab nichts mehr, was ihn ängstigte. Die Welt gehörte ihm. Er wurde von einer unbändigen Lust gepackt, die Arme auszubreiten und wie ein Vogel vom Rand der Klippe abzuheben… Er erstarrte. Stimmen? Hier? In dieser Einöde? Das entsetzliche Wesen, das er gesehen hatte? War es ihm gefolgt? »Kolgrim!«
Nein, das war Tarjeis Stimme. Wie konnte das angehen? Tarjei hier? Nein, es war bestimmt das Pulver, das seine Sinne täuschte.
Aber dort oben, von der gegenüberliegenden Seite, kamen vier Männer auf ihn zu gelaufen. Zur Hölle auch!
Es war Tarjei. Und ein Stallbursche, Bärd hieß er wohl. Und der Häusler Bergfinn. Was zum Teufel hatten die hier zu suchen?
Den jungen, blonden Burschen dort hatte er noch nie gesehen. Wo hatten sie den denn aufgegabelt? Oder… Moment mal! War das nicht der, der mit Mattias gekommen war? Immer wieder Mattias!
Verdammter Mattias, verdammter Rotzbengel, sollte sein Schatten auch über diesem Tal liegen? »Kolgrim, warte!« Jetzt waren sie unten.
»Kommt nicht näher«, rief er ihnen zu. »Ihr könnt mich sowieso nicht besiegen. Ihr seid bloß gewöhnliche Sterbliche. Ich, ich habe Satan selbst gesehen!«
Tarjei murmelte den anderen zu: »Er hat irgend ein Pulver genommen. Wartet hier, ich werde versuchen, ihn aufzuhalten. Geht ein Stück zurück!«
Er ging ein paar Schritte näher, bis er außer Hörweite der drei anderen war. »Wie hat Satan ausgesehen, Kolgrim?«
»Verdammt abscheulich«, sagte der Junge. »Er ist das Teuflischste, das ich jemals gesehen habe!« Das sollte er ja wohl auch sein…
Tarjei hatte nicht geahnt, daß der kleine, freundliche Kolgrim so viele Flüche kannte.
»Er war viel kleiner, als du ihn dir vorstellst«, sagte der Junge mit starren, unnatürlich glänzenden Augen. »Klein und breit. Und er hatte eine schnabelähnliche Nase und stechende, giftgelbe Augen und… und er stand wie eine dunkle Silhouette oben auf dem Gipfel und… « »Kolgrim«, sagte Tarjei ruhig. »Es war nicht Satan, was du gesehen hast. Es gibt keinen Satan. Du hast eine perfekte Beschreibung von Tengel dem Bösen gegeben, so wie Sol ihn damals hier gesehen hat. Und einmal als Erscheinung in einem Drogentraum.«
Kolgrim starrte ihn ungläubig an. »Woher willst du das denn wissen? Du bist doch bloß ein gewöhnlicher Mensch!«
»Großvater Tengel hat es mir damals erzählt, als er mir den Sack dort gab. Sol hatte ihm ihre Erscheinungen geschildert. Sol konnte bedeutend mehr als du.«
»Nehee«, sagte Kolgrim im Brustton der Überzeugung, »ich bin der Stärkste, der Größte! Ich kann fliegen. Paß nur auf, wie ich von der Klippe hier abhebe!« »Halt, Kolgrim, bist du verrückt? Das ist nur der Rausch, begreifst du das nicht! Komm jetzt mit uns nach Hause! Das hier ist wirklich nichts, womit man spielt!« Der Junge wurde störrisch. »Ich spiele nicht. Ich bin ein Auserwählter. Ich allein bin ein Auserwählter.« »Ja, Kolgrim, das bist du«, sagte Tarjei ernst. »Und deshalb finde ich, daß du die phantastischen Möglichkeiten, die du hast, nutzen solltest, um ein neuer Tengel der Gute zu werden. Um so geliebt und bewundert zu werden wie er.«
Kolgrim fauchte: »Ich habe beileibe keine Lust, geliebt und bewundert zu werden, du bist ja so dumm, Tarjei! Was soll ich damit, wenn ich erreichen kann, daß alle mich fürchten, daß ich über die ganze Welt herrsche, daß ich töten kann, wen ich will, daß ich auf ihnen herumtrampeln und über ihre Angst lachen kann? Auch du wirst vor mir erzittern, Tarjei. Und alle daheim sollen vor mir kriechen. Geliebt und bewundert! So ein Quatsch! Was wollt ihr überhaupt hier?«
»Ich bin auch auf dem Dachboden von Grästensholm gewesen«, sagte Tarjei sanft. »Und da habe ich dasselbe gefunden wie du. Auch ich habe begriffen, wo dieser Ort ist, an dem Tengel der Böse den Kessel vergraben hat. Kein Wunder, daß du und ihn gesehen hast! Er muß schrecklich wütend geworden ein, daß jemand es herausbekommen hat. Er will ja schließlich nicht, daß der Kessel ausgegraben und der Fluch damit aufgehoben wird. Aber siehst du, ich bin kein Verdammter, also kann ich ihn nicht sehen. Deshalb werde ich das ganze Zeug ausgraben, damit die Sippe in Zukunft ihren Frieden hat.« »Nein!«
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