Die Saga vom Eisvolk 06 - Das böse Erbe
mißtrauisch angesichts all des Neuen und Aufregenden und ein wenig eingeschüchtert von der fremden Umgebung krochen die Jungen ins Bett - dankbar, daß sie einander hatten. Im Zimmer nebenan lag die kleine Eli, still wie eine kleine Maus. Sie hatte noch nicht viel gesagt, seit sie hier war. Ein gehauchtes Dankeschön ab und zu, das war alles. Und dann traf Gabriella ein.
Der Kutscher hatte sie vom Kai in Christiania abgeholt. Stumm und in sich gekehrt saß sie im Schlitten auf dem Weg nach Grästensholm. Irgendeine Freude über den Besuch bei der Großmutter fühlte sie nicht. Aber zumindest war sie weit fort von Dänemark…
Wie sie dort so in den Pelz eingehüllt saß und die beißende Winterkälte auf den Wangen spürte, dachte sie wie schon so oft in den vergangenen Tagen: Ich wünschte, ich könnte sterben. Wozu lohnt es denn noch zu leben? Keine Menschenseele auf der ganzen Welt scherte sich doch darum, ob Gabriella Paladin lebte oder tot war! Die Kufen glitten lautlos durch den Schnee, der die Huftritte des Pferdes dämpfte. Das Bimmeln des einzigen Schlittenglöckchens trug kaum ein paar Meter in die Stille des Waldes hinein. In den Baumwipfeln sang der Wind sein klagendes Lied. Mein Gott, wie trostlos sich das anhört, dachte sie. Soll ich niemals mehr froh werden? Die Dämmerung hatte schon begonnen, die Luft indigoblau zu färben, als der Schlitten am Fuß der Treppe vorfuhr. Gabriella war nicht oft in Norwegen gewesen. Das erste Mal, als sie sieben Jahre alt war, das war in dem Jahr, als Tarjei begraben wurde und Mattias und dieser Kaleb auf die Kinder aufpassen mußten. Später waren noch zwei weitere Besuche hinzugekommen. Da war keiner der beiden Jungen daheim gewesen, aber sie hatte mit dem lieben kleinen Andreas von Lindenallee gespielt und geplaudert - und sie war unendlich oft und gern mit Großmutter Liv zusammen gewesen.
Jetzt bedeutete nicht einmal Großmutter mehr viel. Gabriellas Leben war vorbei - Schluß und aus!
Ein Junge kam die Treppe herunter gelaufen, um sie zu begrüßen. Ach nein, das stimmte gar nicht, nur weil er recht zierlich und klein von Gestalt war, hatte sie ihn für einen Jungen gehalten. Er war ja schon erwachsen, das erkannte sie, als er näher kam.
Die azurblauen Augen, die Sommersprossen und dieses sanfte Lächeln… Das mußte Mattias sein.
Wie freundlich und gütig er aussieht, dachte sie und spürte eine weiche Regung im Herzen. Das konnte sie gar nicht gebrauchen, dann würde sie nur weinen müssen. »Willkommen, Gabriella! Großmutter und ich haben wie Kinder am Fenster gestanden und nach dem Schlitten Ausschau gehalten. Wir haben uns so darauf gefreut, dich wiederzusehen.«
Gabriella lächelte matt, als er ihr aus dem Schlitten half. Darauf gefreut, daß sie kam? Das glaubte sie nicht. »Wie hübsch du geworden bist, Gabriella«, sagte Mattias. »Eine richtige erwachsene Dame! Aber viel zu dünn. Na, Großmutter wird dich schon aufpäppeln. Da ist sie.« Liv stand auf der Treppe und winkte ihr zu. Seltsam, Großmutter schien überhaupt nicht älter zu werden. Gabriella hatte ganz vergessen, wie warm ihr Lächeln war. Tu das nicht, bat sie stumm. Ich will keine Freundlichkeiten, dann breche ich zusammen. Ich will, das alles so ist, wie ich mich fühle. Traurig, verletzt und einsam. Obwohl Mattias mich andererseits wirklich nicht daran hätte erinnern müssen, wie mager und häßlich und flach ich bin! Ach, es ist alles so verwirrend! Was ich hier nur soll? »Willkommen, mein Kind, wie entzückend du aussiehst«, sagte die Großmutter.
Das sagt sie nur, um mich zu trösten, dachte Gabriella. »Und richtig erwachsen bist du geworden! Ach, wie lange ist das schon her! Du kannst mir glauben, wir waren sehr gespannt, was wohl aus dir geworden ist! Komm herein, komm herein. Schau, Tarald und Yrja sind auch da. Und hier ist Kaleb, erinnerst du dich noch an Kaleb?« Gabriella begrüßte zuerst Yrja, die so groß und häßlich und unförmig war wie immer und so wunderschöne Augen hatte. Gabriella fühlte einen Kloß im Hals. Plötzlich konnte sie nachempfinden, wie sehr Yrja in ihrer Jugend unter ihrer mangelnden Attraktivität gelitten haben mußte. Wo sie doch so wunderbar war! Aber Yrja brauchte ihr Mitleid nicht, denn sie hatte ja ihren Tarald gekriegt. Und was hatte Gabriella?
Tarald sah aus wie ein echter Gutsbesitzer in seiner abgetragenen Hauskleidung, er wollte sie so bequem und abgetragen haben und nicht auf seine Kleidung achtgeben müssen. Er und Yrja
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