Die Saga vom Eisvolk 06 - Das böse Erbe
ihren Oberarm - und hielt jäh in der Bewegung inne. »Gütiger Gott!« flüsterte sie.
Die Arme waren dünn wie Streichhölzer. Die Schultern bestanden nur aus Haut und Knochen, und die Schulterblätter ragten wie Flügel aus dem Leib. »O du armes Kind!«
Gabriella legte das Mädchen behutsam wieder hin. »Nun… Wir werden schon ein wenig in dich hineinkriegen, du wirst sehen. Lieg du nur ganz still, ich schaffe das schon.«
Während ihres behüteten Daseins in Gabrielshus hatte sie nie mit Kindern zu tun gehabt. Sie stützte Elis Kopf mit der einen Hand und flößte ihr mit dem Löffel ein wenig dünnen Brei ein. Das Mädchen schluckte gehorsam, aber angestrengt, es schien, als sei sie durch Gabriellas Anwesenheit völlig eingeschüchtert.
»Ich werde dich nicht schlagen, wenn es das ist, was du fürchtest«, sagte sie. »Aber wie hat deine Mutter nur zulassen können, daß es dir so schlecht geht?« Eli blickte sie mit großen Kälberaugen an. »Hast du vielleicht keine Mutter mehr?« Das Kind schüttelte den Kopf. »Aber einen Vater?«
Endlich versuchte die Kleine zu sprechen. »Großvater«, wisperte sie schüchtern. »Aber… er ist wohl schon alt?« Eli nickte. »Krank«, piepste sie.
»Ja aber wer hat sich denn um dich gekümmert?«
»Ich habe mich gekümmert, um die Nygard-Bäuerin«, flüsterte sie. »Aber dann… ich konnte nicht mehr so, wie sie wollte. Sie wurde böse auf mich.«
Gabriella schloß die Augen. »Hier wird niemand böse auf dich«, sagte sie mit dem schlechtesten Gewissen der Welt. »Du mußt mir verzeihen, wenn ich grantig zu dir war. Ich habe es im Moment nicht besonders leicht, weißt du.« Eli sah sie fragend an. »Hast du auch keinen, der dich liebhat?«
»Ach, im Grunde ist es nicht der Rede wert«, sagte Gabriella beschämt. Sie sah auf einmal ihren eigenen Kummer in einem ganz anderen Licht. »Ich habe viele, viele. Da war nur ein einziger, der mich nicht haben wollte.« Eine kleine, abgemagerte Hand schloß sich tröstlich um die ihre. Gabriella holte tief und bebend Atem, um die Fassung zu bewahren. Herr im Himmel, dachte sie. Dieses kleine Mädchen tröstet mich.
»Du sollst dich jetzt einfach ausruhen und ordentlich essen.«
»Ja«, wisperte Eli. »Das ist sehr schlimm. Wenn einen keiner liebhat.«
»Das ist wirklich wahr! Man fühlt sich ganz wertlos.« Das Mädchen nickte.
Gabriella behielt die kleine Hand in ihrer großen, es war wie ein schwesterlicher Händedruck. Eine Erinnerung tauchte vage vor ihrem geistigen Auge auf. Eine Treppe… Die Außentreppe hier auf Grästensholm. Ein großer Junge, der ihr warme Worte sagte – als sie einem kleinen Jungen half, der sich das Knie aufgeschlagen hatte. Sie erinnerte sich nicht mehr im einzelnen daran, was er gesagt hatte, aber es war etwas in der Art gewesen, daß sie ein Talent dafür hatte, sich um andere zu kümmern, daß dies ihre Lebensaufgabe werden sollte. Und sie hatten alle beide herausgefunden, daß sie gerne anderen Menschen halfen. Kaleb…
Mit einem Ruck tauchte sie wieder in der bitteren Gegenwart auf. »Hat die Nygard-Bäuerin dich nicht gut behandelt?«
Die Kleine preßte die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. Sie wandte den Blick ab.
»Wie bist du überhaupt dorthin gekommen?«
»Sie ist zu Großvater gegangen und hat gesagt, daß sie sich um mich kümmern will. Wie eine Mutter.« »Und statt dessen hast du arbeiten müssen?« »Ja.«
»Ohne Bezahlung, kann ich mir denken. Hast du nichts zu essen bekommen?«
»Essen habe ich mich nicht getraut. Sie hat gesagt, daß ich ihr alles wegesse. Aber das habe ich nicht getan. Ich habe fast nichts bekommen. Und das Wenige, was sie mir gegeben hat, habe ich nicht anzurühren gewagt.« Gabriella dachte an all das gute Essen, all die Liebe und Fürsorge daheim in Gabrielshus…
»Wie heißt du?« wisperte es schüchtern aus den Kissen. »Gabriella«, erwiderte sie und ließ sich nicht anmerken, daß keine Fremde eine Markgräfin duzen durfte. Eli zögerte, sicher wollte sie etwas sagen. »Ja? Hast du etwas auf dem Herzen?«
Ein ängstliches Flüstern: »Kannst du nicht hier schlafen? Bei mir?«
Gabriella war gerührt. Sie sah die kleine Kindernase an und lachte hilflos. »Ich habe wohl nicht genug Platz hier. Fürchtest du dich im Dunkeln?«
Das kleine Geschöpf nickte verlegen. »Es ist so einsam hier. Und so groß!«
»Aber es kommt sicher bald noch ein Mädchen, Eli.« »Ist sie lieb?«
»Das weiß ich nicht. Ich kenne sie ja nicht. Du,
Weitere Kostenlose Bücher