Die Saga vom Eisvolk 06 - Das böse Erbe
Betten haben in jedem Zimmer Platz. Vier Kinder also. Wir fangen damit an und warten mal ab, wie es geht. Es lohnt nicht, zu weit vorauszuplanen.« Kaleb sagte ziemlich barsch, so als wollte er sich von seiner eigenen Idee oder besser seiner eigenen Weichherzigkeit distanzieren: »In dem Fall weiß ich zwei Jungen, die ich gerne retten möchte. Der eine erledigt die Arbeit eines ausgewachsenen Mannes bei einem Kohlenhändler, die Lasten, die er schleppen muß, brechen ihm fast das Rückgrat. Ihr solltet den kleinen Kerl sehen, wie er im Zickzack über die Straße wankt, bis zum Zusammenbrechen beladen mit einem Kohlensack, der größer ist als er selbst! Ich habe ihn da rausgeholt, aber es gab keinen Ort, wohin er hätte gehen können, und kaum hatte ich den Rücken gedreht, hatte der Kohlenhändler ihn sich zurückgeholt. Er ist ungefähr zehn Jahre alt. Der Junge hat einen klugen Kopf, aber er ist vollkommen eingeschüchtert und traut sich nicht, etwas anderes zu tun als zu gehorchen. Er hat keinerlei Verwandte.« »Den nehmen wir«, sagte Mattias. »Und der andere?« »Er ist taub, und seine Familie benutzt ihn für ihren Lebensunterhalt. Das ganze Jahr über steht er an einer Straßenecke in Christiania und bettelt, mit einem großen Schild auf der Brust, auf dem steht TAUBSTUMM. Wenn er ohne Geld heimkommt, setzt es Prügel. Er wird grün und blau geschlagen und friert erbärmlich jetzt im Winter. Ich hatte ihm ein paar Handschuhe geschenkt, aber am nächsten Tag stand er wieder da mit blaugefrorenen Händen. Seine Eltern hatten die Handschuhe verkauft - und außerdem wirkte es nicht elend genug, wenn er mit so schönen Fäustlingen an den Händen bettelte.« »Hol ihn her«, sagte Liv. Kaleb und Mattias fuhren nach Christiania und holten die beiden Jungen. Leicht war es nicht. Der Kohlenhändler tobte, und der Junge selbst war völlig verschreckt und hätte sich am liebsten verkrochen.
Er schwankte zwischen den beiden Männern und seinem Sklaventreiber hin und her, je nachdem, wer gerade sprach. Aber letztlich sorgten Mattias' Lächeln, sein Doktortitel und die Tatsache, daß er ein echter Baron war, dafür, daß der Kohlenhändler sich geschlagen gab. (Und nicht zuletzt wohl auch die Silbermünze, die ihm zugesteckt wurde.)
Die Eltern des taubstummen Jungen veranstalteten ein Heidenspektakel, weil man ihnen ihren geliebten Sohn rauben wolle. Was nichts anderes bedeutete als: ihre beste Einnahmequelle. Aber sie riefen nicht nach der Obrigkeit, o nein, davor hüteten sie sich wohlweislich. Und da sie dreizehn Kinder hatten und Mattias ihnen Geld für den Jungen bot, gaben sie ziemlich schnell auf. Auf dem Rückweg sagte Mattias:
»Es ist wirklich schlimm, wenn Eltern auch noch Geld dafür nehmen, daß man ihren Kindern hilft!«
»Ich mache mir keine Illusionen mehr über die Menschen«, sagte Kaleb.
Sie hatten die beiden Jungen in den Schlitten gesetzt und sie in ein warmes Fell eingepackt. Da hockten die beiden nun und musterten einander skeptisch. Sie waren ungefähr gleichaltrig, der kleine Bettler sah sehr heruntergekommen aus, aber von dem anderen konnte man sich nur schwer einen Eindruck verschaffen, denn er war schwarz von Kohlenstaub. »Wie heißt du?« fragte er. »Nikodemus«, sagte der Betteljunge.
»Was?« riefen Kaleb und Mattias wie aus einem Munde. »Du kannst sprechen? Und hören?«
»Klar«, sagte der kleine Nikodemus. »Aber Mutter und Vater haben mir verboten, das zu verraten. Man kriegt nämlich mehr Geld, wenn man taubstumm ist.«
Die beiden Männer waren sprachlos.
»Gut, daß wir ihn da rausgeholt haben«, sagte Mattias. »Ja«, nickte Kaleb. »Bevor sein moralisches Empfinden gänzlich verdorben werden konnte.«
Nikodemus wärmte sich die frostgeplagten Hände unter dem schönen weichen Fell. Er war entsetzlich mager und hatte Blutergüsse im Gesicht. Die Augen des anderen Jungen hatten einen skeptischen, beinahe toten Ausdruck - etwas, das ihnen bei einem Zehnjährigen ganz und gar nicht gefiel.
Liv tat es sichtbar gut, so junge Menschen ins Haus zu bekommen, und sie freute sich darauf, ihnen geben zu können, was sie vorher nicht gekannt hatten: Gutes Essen, ein gemütliches Zimmer und Fürsorge. Als sie den kleinen Per von all dem Kohlenstaub saubergeschrubbt hatten, zeigte sich, daß er ein magerer, sehniger und muskulöser kleiner Kerl war, mit Haaren so fein und seidig wie Kükenflaum, und einem unglaublichen Appetit. Insgeheim nannten sie ihn »Drosselküken«. Noch
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