Die Saga vom Eisvolk 08 - Die Henkerstochter
dachte zurück an die Steine, die nach ihr geworfen worden waren. An die Kinder, die um den kleinen Hof herum auf der Lauer gelegen hatten. An die Schimpfworte, mit denen sie überschüttet worden war. »Ich weiß nicht«, sagte sie gedankenverloren. »Es gibt wohl auch nette Kinder, nehme ich an.« Die anderen sahen sich an und verstanden.
»Unsere Kinder sind nicht böse«, sagte Kaleb. »Nur ungebärdig und laut. Willst du es nicht ein paar Tage versuchen? Wenn es nicht geht, werden wir eine andere Lösung finden.« »Ja… vielen Dank«, flüsterte sie unsicher.
Der Gedanke, allein dort oben am Waldrand zu wohnen, erschreckte sie. Dann lieber höhnische Worte von Kindern ertragen. Aber sie hatte große Angst, anderen zur Last zu fallen. Ob sie es wohl aus reiner Güte taten? Oder brauchten sie sie wirklich?
So übel hatte das Leben Hilde mitgespielt, daß sie nicht richtig wußte, ob sie es wagen sollte, diesen anscheinend so phantastischen Menschen zu vertrauen. Und an sie binden wollte sie sich schon gar nicht.
»Jetzt will ich hier mal Ordnung schaffen«, sagte der Vogt ungeduldig. »Warum sollte jemand Joel Nachtmann umbringen? Wußte er etwas? Außer der Sache mit dem Pferd und dem Wagen?«
»Vater hat so viel geredet«, sagte sie ausweichend. »Ich habe nie zugehört.«
»Glaubst du, daß er in seiner Eigenschaft als Henkersknecht irgendwas gehört haben könnte?« »Das weiß ich nicht. Was sollte das sein?«
»Hat er irgendwann einmal etwas über Werwölfe gesagt?« »Nicht daß ich wüßte.«
»Aber er bekam mächtig Angst, als wir das Wort erwähnten.«
»Das ist nur natürlich. Vater war ein ängstlicher und abergläubischer Mann.«
»Werwölfe hängen keine Leute auf, bemerkte Brand. Der Vogt konnte Brand nicht besser leiden als dieser ihn. Er wandte seine inquisitorischen Augen seinem ärgsten Widersacher zu und sagte scharf: »Nein. Nicht im Wolfsfell. Aber der Mensch, der den Werwolf in sich trägt, hat vielleicht Angst bekommen.«
»Das sind doch alles blanke Annahmen«, fauchte Kaleb. Andreas sagte zu Hilde: »Ich habe mit dem Pastor und dem Totengräber gesprochen. Wir haben uns darauf geeinigt, daß die Beerdigung schon morgen nachmittag stattfindet. Dann kommt der Totengräber mit Pferd und Wagen, um deinen Vater zu holen, und der Pastor wartet in der Kirche auf euch. Er wollte Joel Nachtmann in ungeweihter Erde bestattet, aber ich konnte ihn umstimmen.«
»Dein Vater war kein Selbstmörder, Hilde«, sagte Kaleb. »Der Pastor hatte also kein Recht dazu.« »Das meine ich auch«, nickte Andreas.
Kaleb sagte: »Aber Gabriella hätte gerne noch einen Tag Zeit, um dein Zimmer schön gemütlich zu machen. Wenn du also so lange… «
»Du könntest heute nacht auf Grästensholm bleiben«, sagte Mattias schnell. »Wir haben Platz genug.« »Ja, und ich könnte dich jetzt nach Hause begleiten, Hilde«, sagte Andreas eifrig. »Und dir dabei helfen, die Tiere und all die persönlichen Sachen, die du mitnehmen willst, hinunter nach Elistrand zu schaffen. Wir machen das gleich heute, oder, Kaleb?« »Ja, natürlich, das paßt ausgezeichnet.«
»Danke! Ich danke Euch allen«, sagte Hilde überwältigt. »Ihr seid so freundlich… «
Sie nahm sich zusammen, damit sie nicht anfing zu weinen. Ihr Herz schlug heftig bei dem Gedanken, daß Andreas sie begleiten würde. Bis nach Elistrand. Das war ein langer Weg. Aber er hätte gerne noch etliche Meilen länger sein können.
Matilda stand in der Tür. »Und jetzt gibt es eine kleine Festmahlzeit. Hilde ist die Gastgeberin. Bei all dem Kummer dürfen wir nicht vergessen, daß sie etwas Besonderes für Andreas und Mattias vorbereitet hat. Die beiden haben also das Erstrecht auf all die guten Sachen, die sie serviert. Wir anderen müssen uns mit den Beeren begnügen, die sie uns vielleicht übriglassen.«
Ihre munteren Worte lockerten die Stimmung ein wenig auf, und während des Essens lobten sie ihr Brot über alles.
»Niemals«, sagte sie und nahm langsam das Kästchen an sich. Es war verschlossen, aber sie wußte, wo der Schlüssel war.
»Du liebe Güte«, rief sie aus, als sie das Kästchen geöffnet hatte. »Er war ja reich? Andreas trat näher.
Hilde zählte nach. »Das sind… ein, zwei drei… fast vier Reichstaler! Was soll ich damit machen?«
Er lächelte gerührt. Vier Reichstaler? Armes kleines Mädchen!
»Tja, mit soviel Geld im Rücken wirst du dich wohl vor Freiern nicht mehr retten können«, scherzte er. Aber sie blieb ganz
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