Die Saga vom Eisvolk 08 - Die Henkerstochter
kommen ohne ihn auch besser zurecht«, sagte Are mit unendlich trockener Stimme.
Hilde durfte sich in einem Zimmer im alten Trakt von Lindenallee ausruhen. Sie lag auf dem Bett, betrachtete die unglaublich schönen Tapeten und fragte sich, wer die wohl gemalt haben mochte. Es mußte ein Mann mit einem ungewöhnlichen Sinn für Schönheit gewesen sein. Es fiel Hilde nicht ein, daß es auch eine Frau gewesen sein könnte. Für sie stand fest, wo der Platz einer Frau war. Sie hatte nie davon gehört, daß Frauen auch andere Dinge tun konnten als die, für die sie erzogen wurden. Aber sie wußte ja auch nichts von der willensstarken Silje und ihrem weitsichtigen Mann Tengel.
Die Männer kehrten bald zurück, und Hilde ging hinaus, um sie in Empfang zu nehmen.
Sie hatten sich in Matilda guter Stube versammelt. Aber Andreas war nicht dabei. Sie wunderte sich sehr, wo er sein mochte.
Mattias wandte sich mit einem sanften Lächeln zu ihr um, als sie hereinkam.
»Wir haben deinen Vater zurechtgemacht, Hilde. Haben ihm seinen besten Rock angezogen und ihn in der Scheune aufgebahrt. Und wir werden den Totengräber holen, damit er dir mit dem Begräbnis hilft. Andreas ist gleich zu ihm hingegangen, und hinterher wollte er noch nach Elistrand.«
Dort war er also. Das war beruhigend zu wissen. Mit mitfühlenden, tröstenden Augen sah Mattias sie an. »Dein Vater war noch warm, Hilde. Hast du wirklich nichts gehört?«
»Nein, ich… Ach, er muß es getan haben, während ich im Stall war!«
»Ja, da hast du wohl recht«, sagte Mattias und wandte sich ab. »Wir haben das Essen mitgebracht, um das du gebeten hast. Es sieht sehr lecker aus«, lächelte er rasch. »Und ich habe ein Kleid gefunden, das auf einem Stuhl bereit lag. Ich dachte mir, daß du es gerne hier hättest, damit du nicht deine Stallkleidung tragen mußt.« »Danke«, flüsterte Hilde.
Sie ging sofort in ihr Zimmer und zog sich um, kämmte ihr langes Haar und ließ es lose den Rücken herab hängen. Sie war richtig fein, fand sie, als sie an ihrem Kleid heruntersah. Das paßte auch besser zu ihrer Trauer. Schwarzer Rock und schwarzes Mieder und dazu eine weiße Bluse. Die Schuhe zog sie aus, es waren nur klumpige Holzpantinen.
Wenn ihr Gesicht nur nicht so verweint wäre. Aber dafür hatten die anderen sicher Verständnis.
Andreas traf auf Elistrand ein, dem Hof, den Alexander für seine Tochter Gabriella und ihren Mann unten am See hatte bauen lassen. Es war ein großer, weitläufiger Hof mit viel Licht und Sonnenschein. Schon von weitem hörte Andreas die fünf kleinen Kinder spielen. Man hatte sie in den Elendsquartieren Christianias aufgesammelt, elternlose Geschöpfe, denen das Leben übel mitgespielt hatte. Auf Elistrand durften sie bleiben, bis sie groß genug waren, sich selbst zu versorgen. Kaleb und Gabriella führten das Projekt weiter, das Liv begonnen hatte, und wie es schien, waren sie mit ihrem Leben sehr glücklich.
In der Halle wurde Andreas von Eli begrüßt, dem Mädchen, das sie an Kindes statt angenommen hatten. Schmächtig und schutzlos wirkte sie immer noch, aber ihr Lächeln war zutraulich, und sie bekam langsam weibliche Rundungen. Lieber Himmel, dachte Andreas mit einem Stich im Herzen. Das Mädchen ist ja anziehend! Dieses kleine, armselige Küken - wer hätte das gedacht? »Guten Tag, Eli, sind deine Eltern zu Hause?« »Ja, komm nur herein, Onkel Andreas!«
Onkel? Er war zwar ein entfernter Cousin Gabriellas und hatte sich an der Anrede bisher nie gestoßen, aber hörte es sich nicht furchtbar alt an?
Sie empfingen ihn in ihrer guten Stube. Eli war wieder hinaus zu den Kindern gegangen.
Andreas blickte ihr hinterher. »Eli hat sich ja mächtig herausgemacht. Sie ist richtig erwachsen geworden, finde ich!«
»Na na, sie ist erst sechzehn«, lachte Kaleb. »Also Finger weg, du alter Schürzenjäger!«
Die Worte waren von Kalebs Seite als derber Spaß gemeint, aber Andreas nahm sie unerwartet ernst auf. »Nun«, sagte er mit einem steifen Lächeln, »größere Orgien in dieser Richtung hat es in meinem Leben bisher nicht gegeben.«
»Nein, den Göttern sei's geklagt!«, sagte Gabriella. »Liv und Are machen sich schon Sorgen um den Nachwuchs. Wir Enkelkinder haben unsere Pflichten schlecht erfüllt, meinen sie. Tancred hat eine Tochter, das ist alles. Von Mikael wissen wir nichts, du und Mattias wollt anscheinend ewig Junggesellen bleiben, und bei uns… ja, bei uns hat es nicht geklappt.«
»Und Kolgrim ist gestorben. Es
Weitere Kostenlose Bücher