Die Saga vom Eisvolk 08 - Die Henkerstochter
Wunderbar, dann hatte sie mehr Zeit für sich. Das Brot war perfekt. Ja, backen konnte sie, das hatte die Mutter sie gelehrt. Ach Mutter, du solltest deine Hilde jetzt sehen! Ich habe Freunde, verstehst du, Mutter? Sie sind natürlich viel zu vornehm für mich, aber es sind die Vornehmen, die Verständnis haben, die etwas mit mir zu tun haben wollen, während die einfachen Leute aus dem Dorf nur böse Worte für mich haben. Das wußte ich bisher nicht. Wie verdreht doch alles ist!
Er sieht so gut aus, Mutter. Aber ich mache mir natürlich keine Hoffnungen, es ist nur so schön, zu träumen. Jemanden zu haben, nach dem ich mich sehnen kann. Ob ihm das Brot wohl schmeckt? Ich habe frische Butter gemacht, und der Rahm ist auch schon abgeschöpft. Als sie mit dem Gröbsten fertig war und der Vater sich immer noch nicht gerührt hatte, rief sie:
»Jetzt kannst du aufstehen, Vater. Der Doktor hat gesagt, daß du heute aufstehen solltest.«
Keine Antwort. Er mußte einen erstaunlich tiefen Schlaf haben.
Sie machte das Frühstück bereit, und dann rief sie nochmal: »Bist du schon wach, Vater?« Von drinnen war kein Laut zu hören.
Hilde ging zur Kammertür und drückte sie auf. Zuerst konnte sie nicht richtig verstehen, was sie da sah. Aber als sie begriff, daß der Vater sich am Dachbalken erhängt hatte, wich sie entsetzt zurück und stürmte aus dem Haus. Erst als sie unten am Zaun angekommen war, besann sie sich. Und wenn er noch lebte?
Aber nein, das war unmöglich. Erstens war es dort drinnen die ganze Zeit still gewesen, während sie im Haus arbeitete. Und zweitens hatte er sehr tot ausgesehen. Halb wahnsinnig vor Entsetzen lief sie den ganzen Weg hinunter zur Lindenallee.
Sie hatte schon an die Tür gepocht, als ihr einfiel, daß dies nicht das Haus war, zu dem sie hätte laufen sollen. Der Doktor wohnte auf Grästensholm. Aber ganz spontan hatte es sie hierher getrieben. Sie konnte sich denken, warum. Ein Dienstmädchen öffnete.
»Vater hat sich erhängt«, japste sie atemlos.
Die Magd, die sie nicht kannte, sah' sie einen Moment fragend an. Dann ging sie hinein.
Nach einer kurzen Weile kam Brand heraus.
»Hilde? Was sagst du da? Dein Vater hat…?«
Sie konnte nur nicken. Die Tränen standen ihr in den Augen.
»Matilda!« rief er, und seine Frau und sein Sohn Andreas erschienen. Hilde trocknete rasch ihre Tränen. Brand legte den Arm um ihre Schulter. »Du bleibst jetzt erst einmal hier bei Matilda und beruhigst dich ein wenig, wir kümmern uns darum. Andreas, hol sofort Mattias! Joel Nachtmann hat sich erhängt. Schick den Jungknecht zum Vogt!« Hilde hob die Hand. »Ja?« sagte Brand. »Es ist nur… ach nein, es ist zu dumm… » »Na komm schon, sag es ruhig!«
Seine Stimme war so freundlich, daß sie mit verlegenem Blick zu flüstern wagte:
»Ich habe ein bißchen was vorbereitet - weil Ihr doch heute kommen wolltet. Frischgebackenes Brot. Und Walderdbeeren. Und Sahne. Und frische Butter. Es steht alles zusammen in der Speisekammer. Könntet Ihr so freundlich sein und das alles hierher bringen? Ich möchte nicht, daß es verdirbt. Ich… ich habe vorher noch nie Gäste gehabt…«
Jetzt war Matilda diejenige, der Tränen in die Augen traten. »Aber natürlich, Hilde. Die Männer bringen alles mit.«
Brand und ein Stallbursche liefen gleich zum Waldrand hinauf.
Und weil Hilde nichts anderes übrig blieb als hierzubleiben und zu warten, brach sie unter heftigem Weinen zusammen, als sie in dem vornehmen Zimmer saß, ein Zimmer, wie sie es vorher noch nie gesehen hatte. Matilda tröstete sie, so gut es eben ging, aber es gab nicht viel, was man in einer solchen schweren Stunde sagen oder tun konnte.
Es gelang Hilde, sich ein wenig zu beruhigen. Mit verhangenem Blick, als ob ihre Gedanken ganz woanders wären, starrte sie vor sich hin. »Armer Vater«, sagte sie leise.
Matilda mochte plump und phantasielos wirken. Aber die Art, wie Frauen dachten, die kannte sie. Sie begriff, daß hinter den zwei Worten mehr lag als ein verständlicher Kummer.
Joel Nachtmann war von allen verabscheut worden. Und jetzt, wo er tot war, hatte die einzige, der er ein klein wenig bedeutete, mehr an Brot und Beeren gedacht als an ihn. Mit seinem Tod hatte er Hildes glücklichsten Moment zerstört. Deshalb: »Armer Vater!«
4. KAPITEL
Der Jungknecht kam zurück und berichtete, daß der Vogt schon fort gewesen sei, aber seine Haushälterin wollte ihm Bescheid sagen, sobald er wieder zu Hause eintraf. »Na ja, die
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