Die Saga von Thale 01 - Elfenfeuer
und ihre Aufgabe würde nicht leicht werden. Ein lang gezogener Seufzer drang aus der Kehle der Wölfin. Dann rollte sie sich im Schatten zusammen, um noch etwas zu schlafen.
Die Sonne würde bald untergehen.
Über dem kleinen Weiher in den riesigen, undurchdringlichen Wäldern von Daran lag silbern schimmernder Dunst. Mannshohes Schilfgras wiegte sich sanft in der leichten Abendbrise und die tiefgrünen Blätter der Ufererlen raschelten leise. Und während das letzte Licht des milden Spätsommerabends immer schneller schwand, verdichtete sich der Dunst über dem Weiher zu einem bizarren Gespinst aus dünnen Nebelschwaden.
Sunnivah saß auf einem alten, morschen Eichenstamm und blickte über das dunkle Wasser. Seufzend schloss sie die Augen, zog die kühle, feuchte Luft tief in ihre Lungen und versuchte eins zu werden mit dem Frieden, der sie von allen Seiten umgab. Sie liebte diesen Ort. Er war ihre Zuflucht, so lange sie zurückdenken konnte, und sie suchte ihn auf, wann immer sie allein sein wollte.
Es war die letzte Nacht, die sie in der vertrauten Umgebung des Hauses der Novizinnen verbringen würde. Schon morgen Abend gehörte sie zu den Priesterinnen. Der Gedanke daran jagte ihr einen leichten Schauer über den Rücken und sie schalt sich wegen ihrer kindischen Furcht. Gedankenverloren brach sie einige Stücke von der losen Rinde des Baumstamms ab und warf sie ins Wasser. Wie kleine Boote trieben sie auf dem Weiher, wo sich ihre ringförmigen Wellen immer weiter ausbreiteten.
In einer gewohnten Geste wanderten Sunnivahs Hände durch den schmalen Halsausschnitt ihres Gewandes zu dem kunstvoll eingefassten Stein, den sie an einem dünnen Lederband um den Hals trug. Er war ein Geschenk ihrer Mutter und das Einzige, was sie von ihr besaß. Traurig drehte sie den orangefarbenen Stein in den Händen und fragte sich, was ihre Mutter wohl für eine Frau gewesen sein mochte.
Es gab nicht viel, was Sunnivah über sie wusste. Man hatte ihr nur gesagt, dass sie eine junge Priesterin gewesen sei, die bei ihrer Geburt gestorben war.
Auch ihren Vater kannte Sunnivah nicht, doch das war unter den Priesterinnen nicht ungewöhnlich, denn dort, wo sie zu Hause war, gab es keine Männer.
Als An-Rukhbar vor mehr als dreißig Sommern die Druiden besiegt und die Gütige Göttin verbannt hatte, waren die überlebenden Priesterinnen an diesen geheimen Ort geflohen. Sie hatten ihm den Namen In-Gwana-Thse gegeben, was in der alten Sprache der Druiden so viel bedeutete wie: »Der Göttin geweiht«. Ein mächtiger Elfenzauber verbarg sie seitdem vor den Augen An-Rukhbars und schützte sie vor seinen Kriegern.
Doch die Sommer vergingen und die Zahl der Priesterinnen wurde immer geringer. Niemand fand den Weg zu ihnen, denn nur die Nebelelfen kannten die verborgenen Pfade, auf denen In-Gwana-Thse zu erreichen war. Um das Wissen der Priesterinnen zu erhalten und ihren Fortbestand zu sichern, hatte sich die Priesterinnenmutter vor zwanzig Sommern zu einem ungewöhnlichen Schritt entschlossen. In jedem Jahr wählte sie zwei junge Priesterinnen aus, die ihre Heimat für kurze Zeit verlassen sollten, um sich in Daran einen Gefährten zu suchen. Dort wurden sie von einer Heilerin namens Mino-They aufgenommen, die sie als ihre Schülerinnen ausgab. Sobald die Priesterinnen ein Kind empfangen hatten, kehrten sie in ihre Heimat zurück, um ihre Kinder hier zur Welt zu bringen. Es waren ausnahmslos Mädchen. Keine Priesterin hatte jemals einem Jungen das Leben geschenkt.
Eine plötzliche Bewegung auf der anderen Seite des Weihers riss Sunnivah aus ihren Gedanken. Aufmerksam lauschte sie auf die Geräusche des Abends, konnte jedoch nichts Ungewöhnliches entdecken. Müde erhob sie sich und streckte ihre steifen Glieder. Es war bereits dunkel, Zeit, sich auf den Heimweg zu machen.
Erst als das Geräusch ihrer Schritte in der nächtlichen Stille verklungen war, trat die nebelgraue Wölfin an den Weiher. Das Licht der aufgehenden Monde ließ ihr dichtes Fell schimmern, während sie ihren Durst stillte. Dann trottete sie langsam zu dem alten Baumstamm hinüber und nahm mit ihrer empfindlichen Nase den Geruch des rothaarigen Mädchens in sich auf. Anschließend wandte sich die Wölfin wieder dem Wasser zu und suchte witternd den Boden ab. Die Fährte des Mädchens war noch frisch. Aber die Wölfin brauchte ihr in dieser Nacht nicht zu folgen. Sie würde das Mädchen jederzeit wieder erkennen.
Sunnivah hatte die Tempelstadt fast
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