Die Saga von Thale 01 - Elfenfeuer
Sunnivah streckte sich ausgiebig.
»Ich habe auch so gut wie gar nicht geschlafen«, erklärte Kyany. »Und wenn, dann habe ich nur wirres Zeug geträumt. Ich habe sogar gehört, als du dich ins Haus geschlichen hast. Und ich glaube, dass Roven dich auch bemerkt hat. Aber sie hat so getan, als ob sie schliefe.«
Sunnivah lächelte. »Gute, alte Roven. Ich glaube, ich werde unsere strenge Lehrerin vermissen.«
»Das freut mich zu hören!« Die rundliche Gestalt Rovens erschien in der geöffneten Tür zum Kräutergarten. Ihre grauen, fast weißen Haare waren noch nicht geflochten, doch sie war schon fertig angekleidet.
»Es ist an der Zeit, dass meine Schülerin mit den Vorbereitungen für das Ritual beginnt«, sagte sie feierlich und setzte sich neben Sunnivah auf die Bank. »Du weißt, dass du bis zum Abend im Haus bleiben musst, um zu fasten und die rituellen Reinigungen vorzunehmen.« Sie legte ihren Arm um Sunnivahs Schulter und bedeutete ihr sich zu erheben.
»Komm mit, Sunnivah«, sagte sie freundlich und führte das Mädchen zur Tür. »Es ist so weit.«
Als die vollen runden Scheiben der Monde hoch am östlichen Himmel standen und ihre silbernen Strahlen über die Wälder von Daran sandten, verließ Sunnivah gemessenen Schrittes das Haus der Novizinnen und ging den vertrauten Weg zum Gebetshaus entlang. Ihr langes Haar war zum ersten Mal in der Art der Priesterinnen geflochten und ihr weißes Gewand fiel gürtellos bis zum Boden.
Zu beiden Seiten des schmalen Weges waren große Feuer entzündet worden. Ihr flackerndes Licht ließ die Schatten der Priesterinnen, die schweigend neben dem Weg Aufstellung bezogen hatten, unstet auf und ab tanzen.
Sunnivah hielt den Blick gesenkt und schritt langsam über die Schatten. Sie brauchte ihre ganze Aufmerksamkeit, um nicht zu schwanken, denn das Fasten hatte sie geschwächt und der quälende Hunger machte sie schwindelig. Aber sie war bereit.
Sunnivah erreichte das Gebetshaus und sprach leise die rituellen Worte, mit denen sie um Einlass bat. Zwei Priesterinnen mit verhüllten Gesichtern öffneten das große Tor und nahmen sie in ihre Mitte. Schweigend führten sie Sunnivah durch den von unzähligen Fackeln erhellten Versammlungsraum in eine kleine Kammer. Der herbe Geruch verbrannter Kräuter erfüllte den Raum, in dem ein kleines Talglicht vergeblich versuchte das Dunkel zu vertreiben.
Die Priesterinnen begleiteten Sunnivah zu einem Stuhl. Sie reichten ihr einen Becher mit einem dampfenden Getränk und banden ihr ein schwarzes Tuch vor die Augen.
Sunnivah zögerte nicht. Sobald ihre Augen verbunden waren, setzte sie den Becher an die Lippen und ließ die heiße, brennende Flüssigkeit durch ihre Kehle rinnen, bis der Becher völlig geleert war.
Vor dem Gebetshaus hatten sich inzwischen alle Priesterinnen der Tempelstadt um die Feuer versammelt und stimmten einen uralten Gesang an. Sein gleichmäßiger Rhythmus drang durch das geschlossene Fenster in die Kammer und verband sich mit der rasch einsetzenden Wirkung des Trankes.
Sunnivah spürte nicht mehr, dass die Priesterinnen sie stützten und ihr das Tuch von den Augen nahmen. Ihr Bewusstsein glitt weit fort, sanft getragen von dem monotonen Rhythmus des Gesanges.
… Einsam watete Sunnivah durch einen endlosen dichten Nebel. Sie wusste nicht, wohin sie sich wenden sollte.
»Sunnivah!« Der gellende Schrei wurde von dem dichten Nebel gedämpft, aber Sunnivah wandte sich sofort um. Sie lauschte. Doch der Schrei wiederholte sich nicht.
Als sie schon weitergehen wollte, lichtete sich nicht weit vor ihr der Nebel. Ein Wald tauchte auf. Eine junge Frau lag zwischen den Bäumen auf dem Boden und eine andere kniete neben ihr. Sunnivah sah, wie die kniende Frau einen winzigen Säugling in eine Decke wickelte und ihn an jemanden weiterreichte, dessen Gestalt vom Nebel verdeckt wurde.
»Sunnivah!« Die am Boden liegende Frau bäumte sich auf und streckte ihre Hand nach dem Kind aus.
In diesem Moment lief Sunnivah los, doch bevor sie die Stelle erreichte, war das Bild verschwunden. Wohin sollte sie jetzt gehen? Unschlüssig machte sie ein paar Schritte in die eine, dann wieder in die andere Richtung. Schließlich blieb sie einfach stehen und starrte in den Nebel.
Ohne Vorwarnung begann sich die Luft vor Sunnivah zu kräuseln und sie erkannte die Gestalt eines weißhaarigen, alten Mannes. Er trug einen langen Bart und hielt einen Stab in seiner Hand. Ein Druide! Sunnivah war noch nie zuvor einem begegnet, doch
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