Die Saga von Thale 02 - Die Macht des Elfenfeuers
Vertrauen auf ihre Flugkünste schloss er die Augen und ließ sich von ihr tragen. Das sanfte Auf und Ab des Vogelkörpers machte ihn schläfrig. Die Erschöpfung forderte nachdrücklich ihren Tribut. Tabor fühlte sich so müde und kraftlos wie schon lange nicht mehr und wollte nur noch eines schlafen. Naemy und Chantu kamen gut vorwärts. Ein kräftiger Südwind trieb sie vor sich her und schonte die Kräfte des Riesenalps, sodass sie unterwegs nur einmal eine kurze Rast einlegen mussten, um zu essen und zu schlafen. Gegen Mittag des zweiten Sonnenlaufs schließlich, einen halben Sonnenlauf früher als erwartet, entdeckte Naemy am nördlichen Horizont den hellen Streifen des Graslandes. Ein wolkenloser, azurblauer Himmel spannte sich über die ausgedehnte Steppe und im herbstlichen Sonnenlicht glänzten die trockenen Halme der Gräser in goldenem Schimmer. Naemy wies Chantu an, noch etwas höher zu fliegen, damit sie einen besseren Überblick hatte. Sie wusste nicht, wo sich das Heer der Cha-Gurrline zurzeit befand, hoffte aber, es bald zu entdecken, da sich der gewaltige dunkle Heerwurm sicherlich weithin von dem hellen Gras abhob.
Seit dem Morgen war der Südwind immer mehr abgeflaut, doch Chantu hatte Glück: Auf einer großen sonnenbeschienen Lichtung inmitten des dichten Waldes, über den sie gerade flogen, fand er einen warmen Aufwind und begann zu kreisen. Immer höher schraubte er sich in die Lüfte, während er sich gleichzeitig weiter nach Norden treiben ließ.
Naemy richtete sich auf und suchte aufmerksam das Grasland ab nichts! Nur die endlose, leere Steppe breitete sich vor ihr aus. Vereinzelt waren kleine Ansammlungen von Hütten als dunkle Punkte inmitten der goldenen Ebene zu erkennen Dörfer, die inzwischen verlassen waren -, aber nirgends fand sie einen Hinweis auf das Heer.
Die Nebelelfe wandte den Kopf und blickte nach Westen, wo sich das silbern schimmernde Band des Yunktun vor den majestätischen Gipfeln des Ylmazur-Gebirges durch die Ebene schlängelte. Der Anblick versetzte ihr einen schmerzhaften Stich und ihre Gedanken wanderten zu Tabor.
Schon zweimal hatte sie versucht, ihren Sohn mittels Gedankensprache zu erreichen, doch er antwortete nicht. Noch machte sie sich keine echten Sorgen, da sie von Chantu erfahren hatte, dass es Leilith und Tabor gut ging. Doch das Verhalten ihres Sohnes gab ihr Rätsel auf, zumal auch Chantu erwähnt hatte, dass sich Leilith ungewöhnlich wortkarg verhielt und angestrengt geklungen hatte.
Die Nebelelfe seufzte. Es hatte keinen Sinn, weiter darüber nachzudenken. Wie die Reise auch verlief, irgendwann würde sie erfahren, wie es Tabor und Leilith ergangen war. Sie holte tief Luft und wandte sich wieder der Ebene zu. In der klaren Luft erkannte sie weit im Norden die dunkle Silhouette der Hügel, die das Ende des Graslandes markierten und die Grenze zur Finstermark bildeten. Von dem Heer war weit und breit nichts zu sehen.
»Ich sehe nichts und d u ? « , fragte Chantu in ihren Gedanken.
»Ich auch nicht«, erwiderte Naemy. »Die Steppe ist wie leer gefegt. Flieg noch ein wenig dichter heran und geh wieder tiefer. Ein solch großes Heer kann nicht einfach verschwinden. Es muss irgendwo Spuren hinterlassen haben.«
Wenig später ließen Naemy und Chantu das rotgoldene Blätterdach des Waldes hinter sich und erreichten die Steppe. Die trockenen Gräser wiegten sich in der leichten Brise, die noch immer aus südlicher Richtung über die Ebene strich, doch außer einer kleinen Herde Steppenbüffel, die weit entfernt graste, war nichts Ungewöhnliches zu entdecken.
»Weiter nach Osten«, wies Naemy Chantu an. Der Riesenalp schwenkte nach rechts und folgte dem Saum des Waldes nur wenige hundert Längen von der letzten Baumreihe entfernt. Lange Zeit war auch hier nichts zu erkennen, doch plötzlich straffte sich Naemy. »Bei der Göttin, sie sind schon im Wald! « , flüsterte sie ungläubig und starrte auf die breite Spur, die hunderte von Kriegern und Dutzende schwer beladener Wagen in dem weichen Steppenboden hinterlassen hatten. »Bei den Toren!« Naemy hatte nicht damit gerechnet, dass die Cha-Gurrline schon so weit gekommen waren. Das warf ihren ganzen Plan durcheinander. Bisher hatte sie vorgehabt, das Heer außerhalb der Pfeilschussweite von oben zu beobachten, um herauszufinden, wo sich Kiany befand. Im Wald war das natürlich nicht möglich. Die bunt gefärbten Baumkronen waren der Jahreszeit zum Trotz noch immer dicht belaubt und verwehrten ihr
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