Die Sakristei Des Todes
sich nieder und
untersuchte das Skelett gründlich.
»Keine Spuren von Gewalt«, stellte
er fest. »Die Knochen sind zart, glatt und frisch.«
»Also ist es erst vor kurzem
begraben worden?« fragte Athelstan hoffnungsvoll.
»Ah, nein.« Der alte Arzt schaute
Athelstan aus tränenden Augen an. »Ihr kennt die Londoner Tonerde,
Pater. Die kann einen Knochen schön frisch
halten. Gott weiß, wann dieses arme Ding begraben wurde. Aber eines
kann ich Euch doch sagen: Dies ist das Skelett einer jungen
Frau.«
»Woher wißt Ihr das?«
»Eine bloße Vermutung. Aber
angesichts der Feinheit der Knochen, der Konturen der Rippen, der
Arme und Beine, denke ich, daß ich recht habe.«
Athelstan bedankte sich bei beiden
und beharrte noch einmal darauf, daß jedermann die Kirche verlasse;
er scheuchte sie vor sich her wie eine Bäuerin eine Schar Hühner
und rief den Arbeitern zu, sie sollten weitermachen. Draußen befahl
er Watkin, niemanden hineinzulassen. Seine Gemeinde versammelte
sich um Bladdersniff und Culpepper und bestürmte sie mit eifrigen
Fragen. Benedicta berührte Athelstans Hand.
»Alles wird gut, Pater. Dieses
Geheimnis wird sich bestimmt sehr bald lösen.«
Er umfaßte ihre warmen Finger. »Ich
danke dir. Benedicta. Und du sei auch beruhigt. Ich werde diesen
Brief nach Boulogne schreiben.«
Er ging wieder in sein Haus und
verriegelte die Tür hinter sich. Bonaventura kam auch; er sprang
durch das offene Fenster, offenbar stolz wie ein Pfau nach seiner
erfolgreichen Jagd in der Kirche. Eine Zeitlang saß Athelstan nur
da und dachte über das Geschehene nach; er bedauerte, daß sein
Seelenfrieden so abrupt gestört worden war. Endlich seufzte er und
nahm Tintenhorn und Pergamentrollen herunter. Er beendete gerade
die letzte Fassung seines Briefes an die Dominikaner in der Nähe
von Boulogne, als es leise an der Tür klopfte.
»Herein«, rief er.
Dann fiel ihm ein, daß er sich
eingeschlossen hatte; er stand auf und zog den Riegel zurück. Halb
erwartete er, Benedicta zu sehen, aber zu
seiner Überraschung stand Cranston da und schaute ihn düster an.
Athelstan trat erstaunt zurück und winkte ihn herein. Cranston kam
wie ein Schlafwandler in die Küche. Da stimmt etwas nicht, dachte
Athelstan. Der große, dicke Coroner erschien sonst immer wie ein
Unwetter aus dem Norden: lautstark und mit viel Gepolter. »Sir
John, es ist eine Freude, Euer liebreizendes Antlitz zu
sehen.«
»Quatsch!« knurrte Cranston und ließ
sich auf einen Schemel fallen. »Hat dieser faule Halunke, der Leif,
dir meine Botschaft gebracht?«
Athelstan setzte sich ihm gegenüber.
»Lady Maude?«
»Der geht es gut.«
»Und die zwei Kerlchen?« Athelstan
benutzte das Wort, mit dem Cranston seine Zwillinge oft
bezeichnete. »Lustig und hungrig.« Der Coroner wischte sich den
Schweiß von der Stirn und schob sein fettes, rotes Gesicht näher an
Athelstan heran. Der Ordensbruder zuckte zusammen, als er den Zorn
in den eisblauen Tiefen der Augen erblickte. »Sir John, Ihr seid
aufgebracht. Einen Becher Wein?«
»Scheiß auf so was!« fauchte
Cranston. »Was ich brauche, ist ein großer Krug Ale. Laß uns in
eine Schenke gehen.« Athelstan war einverstanden; aber innerlich
stöhnte er. »Was schreibst du da?« Cranston deutete mit seinem
dicken Finger auf den Brief.
Der Bruder erklärte es ihm, und
Cranston grinste durchtrieben.
»Dann ist Benedicta vielleicht keine
Witwe mehr?«
»Sir John, Ihr tut mir
unrecht.«
»Aye.« Cranston steckte den Brief
ein. »Ich lasse das verdammte Ding versiegeln und überbringen. Dann
kommt ihr Mann zurück, und du kannst eine andere anhimmeln.«
Athelstan schluckte eine voreilige Antwort herunter, und Bonaventura sprang auf das Fensterbrett. Der Kater
warf einen Blick auf den Coroner, und Athelstan hätte geschworen,
daß Bonaventura in diesem Moment grinste, wenn ein Tier überhaupt
grinsen konnte. Der alte Kater sprang hinaus und kam mit einer
großen Ratte im Maul wieder herein. Er glitt durch die Küche und
legte Cranston die grausige Trophäe vor die Füße wie eine Rose oder
einen Silberbecher. Der Coroner verzog das Gesicht und zog die Füße
weg. »Hau ab, Bonaventura!« grollte er, aber das Entzücken des
Katers über den Anblick des fetten Coroners stieg offenbar noch,
und er rieb sich an Sir Johns stämmigem Bein. »Na, jetzt langt's«,
murmelte Athelstan. Er stand auf, faßte das tote Nagetier beim
Schwanz und trug es, gefolgt von einem aufmerksamen Bonaventura,
nach draußen, wo er es
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