Die Samenhändlerin (German Edition)
ein – während eine innere Stimme ganz laut »Nein!« schrie.
Zwei hübsche junge Frauen wurden von Fuhrleuten gern mitgenommen, daher kamen sie gut voran. Die erste Mitfahrgelegenheit bot ihnen ein Bauer aus einem der Nachbardörfer, der mit seinem alten Gaul und dem klapprigen Wagen auf dem Weg zum Markt in Tübingen war.
Mehr als einmal schaute Hannah über ihre Schulter, ob Gönningen noch zu sehen war, doch das Dorf war längst in der hügeligen Landschaft verschwunden. Bisher hatte sie die Wege,die vom Samenhändlerdorf in die weite Welt führten, lediglich mit dem Finger auf der Karte nachgezogen – nun machte sie sich selbst auf den Weg …
Um ihrer trübseligen Stimmung zu entrinnen, begann Hannah, die Kenntnisse zu wiederholen, über die sie als zukünftige Samenhändlerin verfügen musste. »Gurken benötigen einen warmen Boden und eine sonnige Lage«, rezitierte sie laut. »Sie dürfen erst ausgesät werden, wenn keine Nachtfröste mehr zu erwarten sind. Blumenkohl braucht viel Düngung, sein Boden muss besonders häufig gelockert werden. Stangenbohnen nehmen kühle Nord- und Ostwinde übel – dies muss man schon bei der Wahl des Beetes berücksichtigen. Kohlrabi … was war nochmal mit Kohlrabi?«
Seraphine schüttelte ratlos den Kopf. »Das werden die Leute schon selbst wissen …«
»Und wenn nicht? O Gott, was machen wir, wenn jemand Auskunft zu den Kohlrabisorten haben will?« Hannah stöhnte theatralisch.
»Dann können wir nur hoffen, dass uns bis dahin ein schlauer Spruch dazu einfällt«, antwortete Seraphine trocken.
Hannah kicherte nervös. »Vergiss den Kohlrabi für einen Moment. Erinnerst du dich noch an die verschiedenen Porreesorten? Und muss man den Boden für Salat düngen oder nicht?«
»Die Porreesorten … hmmm.« Mehr war von Seraphine nicht zu hören.
Auf einmal war alles, was sie in den letzten Wochen Abend für Abend mit den Männern auswendig gelernt hatten, wie weggeblasen.
»Das fängt ja gut an. Wir werden uns in Grund und Boden blamieren!«, unkte Hannah und wunderte sich, dass ihre Stimmung dennoch recht heiter war.
Noch auf dem Tübinger Marktplatz hatten sie Glück und fanden jemanden, der in Richtung Herrenberg fuhr. Den Ort, den er als sein Ziel nannte, kannten die Frauen zwar nicht, doch ein Blick auf Gottliebs alte Karte sagte ihnen, dass die Richtung stimmte. Da sich hinten auf dem Wagen jede Menge leere Bierfässer türmten, quetschten sie sich neben dem Fahrer auf den Kutschbock. Während der äußerst gesprächige Mann Seraphine unterhielt, versuchte Hannah, ihren Fahrtweg mit Gottliebs Beschreibungen auf dem kleinen Block zu vergleichen – ein fruchtloses Unterfangen, wie sich bald herausstellte. »Nach ungefähr drei Meilen kommt ihr an eine Kreuzung, auf der rechter Hand ein Wegkreuz steht, dort müsst ihr euch schräg links halten und dann …« So oder ähnlich klangen Gottliebs Notizen, und nichts davon erkannte Hannah ringsum wieder. Offenbar führten mehrere Wege nach Herrenberg. Enttäuscht stopfte sie Gottliebs Block samt Landkarte in ihre Tasche. Einen Moment lang beschlich sie ein ungutes Gefühl bei der Vorstellung, sich einem Fremden anvertraut zu haben. Was, wenn der Mann ein ganz anderes Ziel im Sinn hatte? Was, wenn er ihnen Böses wollte? Unter niedergeschlagenen Lidern warf sie ihm einen langen Blick zu und stellte fest, dass er eigentlich ganz harmlos aussah. Mit Begeisterung gab er eine Geschichte nach der anderen zum Besten und war zufrieden, wenn von Seraphine ab und an ein bewunderndes »Unglaublich!« oder ein entsetztes »Du lieber Himmel!« kam. Trotzdem nahm sich Hannah vor, ab Herrenberg genau den von Gottlieb beschriebenen Weg einzuschlagen. Wenn sie dafür keine Mitfahrgelegenheit fanden, mussten sie eben in Gottes Namen zu Fuß gehen. Nachdem sie diesen Beschluss gefasst hatte, entspannte sie sich ein wenig.
Der Himmel war voller schnell fliegender Wolken, und dort, wo sie aufrissen, sah er wie eine zerknitterte blaue Wolldecke aus. Die Sonne lugte hervor und tauchte die Landschaft inhonigfarbenes Licht. Obwohl der Wagen im Schritttempo fuhr, war der Fahrtwind frisch und blähte Hannahs Reisekleid auf. Wann immer sie unter tief hängenden Ästen hindurchfuhren, blieben zerrissene Spinnweben in ihrem Gesicht kleben. Ja, es war Herbst …
Nun, da keine Insekten mehr brummten, keine milchschweren Kühe mehr auf der Weide muhten und nur hin und wieder ein Krähenschrei die Stille zerriss, war es ungewöhnlich
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