Die Samenhändlerin (German Edition)
still. Hannahs Blick folgte einer Schar von Vögeln, die ruhig und stetig Richtung Süden flogen.
Die Samenhändler sind wie Zugvögel. Sie kommen und gehen mit derselben Regelmäßigkeit.
Wo hatte sie diese Worte erst kürzlich gehört? Sie konnte sie niemandem zuordnen, wusste lediglich, dass es in Gönningen gewesen sein musste.
Hannah lächelte. Eine nicht unangenehme Melancholie überfiel sie. Der Herbst war die Zeit des Abschiednehmens, die Zeit, in der die Gönninger zu fremden Orten aufbrachen. Der einzige Unterschied zum vergangenen Jahr bestand darin, dass diesmal auch sie auf und davon zog. Wie ein Zugvogel …
Es dämmerte schon, als der Kutscher schließlich anhielt. Hier würden sich ihre Wege trennen, erklärte er. Die Brauerei, bei der er Bier holen wollte, läge zur Rechten, während der Weg nach Herrenberg geradeaus führte.
»Nach ungefähr drei Meilen kommt ihr in ein kleines Wäldchen. Wenn ihr dieses durchquert habt, stoßt ihr linker Hand auf einen Weg, der euch direkt nach Herrenberg hineinführt. Der Weg ist zu schmal für ein Fuhrwerk und führt über Stock und Stein, aber er ist eine ausgezeichnete Abkürzung für jeden, der zu Fuß unterwegs ist. Um diese Jahreszeit sollte er ordentlich ausgetreten sein, daher könnt ihr ihn eigentlich gar nicht verpassen.« Der Mann fügte noch hinzu, dass Hannah undSeraphine Herrenberg vermutlich in spätestens zwei Stunden erreicht haben dürften.
»Na endlich!« Kaum waren von dem Brauereiwagen nur noch die Hinterräder zu sehen, sprang Hannah in die Büsche. Schon seit Stunden musste sie dringend Wasser lassen!
Nachdem sie ihre Röcke wieder zurechtgerückt hatte, gesellte sie sich zu Seraphine, die mit zusammengekniffenen Augen in Richtung des Wäldchens schaute.
»Ob es nicht sinnvoller wäre, außen herum zu laufen? Immerhin wird es bald dunkel …«
Hannah biss sich auf die Unterlippe. Auch ihr war nicht wohl bei dem Gedanken, allein durch einen fremden Wald gehen zu müssen. Sie schaute ihre Schwägerin an. »Uns bleibt wohl nichts anderes übrig! Wenn wir nicht unnötig trödeln, sind wir schnell wieder draußen.« Obwohl sie ihrer Stimme einen festen Klang verlieh, war sie insgeheim auf alle möglichen Einwände von Seraphine eingestellt: Ich bin zu müde, ich kann nicht mehr laufen, der Wald macht mir Angst, warum warten wir nicht, bis ein anderer Wagen vorbeikommt und uns mitnimmt …
Doch statt zu lamentieren, nickte Seraphine ihr zu. »Dann wollen wir mal!« Mit festem Schritt gab sie das Tempo vor.
Verdutzt marschierte Hannah hinter ihr her. Was war denn in ihre Schwägerin gefahren?
34
Mit jedem Schritt, den sie taten, wurde der Wald dichter. Die Buchen und Eichen wurden weniger, dafür nahmen die Nadelbäume zu. Das bisschen Licht, das noch durch die hohen Bäume einfiel, wurde von dunklen Moosflecken aufgesogen, so dass die Frauen Mühe hatten, auf dem Weg zu bleiben. Siekamen nicht so schnell voran, wie sie es sich gewünscht hätten, und die Gefahr, auszurutschen, in ein Loch zu treten oder über eine frei liegende Wurzel zu stolpern, war groß.
Eine Zeit lang war nur der schwere Atem der beiden zu hören.
»Hier ist es so still wie in einer Kirche«, flüsterte Seraphine schließlich.
»In einer Kirche ist es aber nicht so unheimlich«, gab Hannah gedämpft zurück und fügte hinzu: »Warum flüstern wir eigentlich?«
Beide kicherten nervös, während sie auf das Wispern des Waldes lauschten. Waren das normale Geräusche?
Hoffentlich war nicht die ganze Strecke bis ins Elsass derart unheimlich, dachte Hannah bang, und ihr Magen verkrampfte sich vor lauter Aufregung. Wie konnte Seraphine so gleichmütig durch diese düstere Wildnis stapfen? Und überhaupt: Seraphine verhielt sich völlig anders als zu Hause! Fast hätte man sie als … überlegen bezeichnen können. Im Grunde ihres Herzens war sie wohl doch eine Samenhändlertochter.
Abrupt blieb Hannah stehen. Du lieber Himmel, was war denn das?
Ihre Hand flog an die Brust, als wolle sie verhindern, dass ihr rasendes Herz davonsprang.
Seraphine fuhr herum. »Was ist! Warum schreist du so?«
Zitternd zeigte Hannah nach rechts. »Da … da geht es schrecklich tief hinab. Und das Rauschen … ein Wasser …«
Keine zwei Fußbreit von ihr entfernt tat sich neben dem Weg jäh ein Abgrund auf. Ein falscher Schritt, und sie wäre in die Tiefe gestürzt! Hannah spürte, wie sich die Härchen auf ihren Unterarmen aufstellten.
»Der Weg führt doch schon die
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