Die Samenhändlerin (German Edition)
ganze Zeit an diesem Bach entlang, das hat der Kutscher sogar extra erwähnt. So wissen wir, dass wir richtig sind. Jetzt lass uns weitergehen, solange es noch hell ist.«
Hannah schaute die Schwägerin entgeistert an. Solange es noch hell ist … Wenn dieser Dämmerzustand für Seraphine hell war, wie sah dann Dunkelheit für sie aus? Mit wackligen Knien setzte Hannah abermals einen Schritt vor den anderen, während Seraphine forsch voranmarschierte.
Hannahs Erleichterung war riesengroß, als sich der Wald eine halbe Stunde später zu lichten begann. Die Abkürzung, von der der Kutscher gesprochen hatte, war breiter als der Hauptweg, und so konnten die Frauen nach einer weiteren halben Stunde Fußmarsch den Wald endlich hinter sich lassen. Hinter einem dünnen Nebelschleier deutete das Schimmern von Licht auf die ersten Häuser hin – ein Gehöft oder schon die Ausläufer des Ortes?
Eine Faust in ihren schmerzenden Rücken gedrückt, beschleunigte Hannah das Tempo. Sie war müde, hatte Durst und sehnte sich danach, den Zwerchsack für kurze Zeit abzulegen. Doch sie wollte nicht anhalten, weder um an einer der vielen Quellen, die ringsumher aus der Erde sprudelten, zu trinken, noch um ihrem Rücken eine Pause zu gönnen. Bald, bald würden sie die Stadt erreichen, das von Gottlieb empfohlene Wirtshaus »Adler« aufsuchen, ein Bier trinken, ihr Brot essen, dann die engen Stiefel ausziehen, alle viere von sich strecken und –
Sie war so in diese Vorstellung vertieft, dass sie nicht merkte, wie Seraphine plötzlich stehen blieb. Hart prallte sie auf die Schwägerin, die einen unwirschen Ton von sich gab. Hannah bat um Entschuldigung.
Seraphine nickte in Richtung der verschwommenen Lichter vor ihnen.
»Mit Herrenberg hat das gewiss noch nichts zu tun. Ist wohl nur ein einsamer Hof. Aber wir sollten ihn dennoch ansteuern und dort nach dem Weg fragen. Es ist doch seltsam, dass manvon der Stadt noch nichts sieht. Vielleicht liegt sie hinter den Hügeln dort … Oder weiter rechts?«
Wieder war es Seraphine, die voranlief. Ihr war Hannahs verwunderter Blick nicht entgangen. Ja, es erstaunte sie selbst, dass sie noch nicht müde war! Zugegeben, da sie bisher fast nur gefahren waren, war die Reise noch nicht sonderlich anstrengend gewesen. Aber dass sie, Seraphine, geradezu das Gefühl hatte, die dunklen Bäume vor sich ausreißen zu können …
Es war, als hätte sie mit Gönningen auch ihre Sorgen verlassen. Als hätte sie sich wie eine Schlange gehäutet und wandelte nun mit neuem Kleid durch die Fremde. Bei jedem Schritt, den sie tat, hatte sie an Helmut gedacht. Helmut, dem sie mit dieser Reise beweisen wollte, dass sie die Samenhändlerfrau war und nicht die Dahergelaufene. Sie würde nicht schlapp machen, gewieft sein im Verkaufen – bestimmt kauften die Leute lieber von einer schönen Frau als von einer unansehnlichen! Im Geiste sah sie schon Helmuts bewundernde Blicke, wenn sie mit einem Sack Geld nach Hause kamen. Ihr Verdienst, in doppelter Hinsicht. Dieser Gedanke gab ihr so viel Kraft!
Sie warf einen kurzen Blick über die Schulter. Ein paar Schritte hinter ihr folgte Hannah schwer schnaufend. Die Schwägerin schien schon ziemlich ermattet zu sein. War das nicht eine gute Gelegenheit, ihr beiläufig zu erzählen, dass Helmut in Wien mit irgendwelchen Huren … Nein, das wollte sie sich für später aufheben.
Als sie Hannah am Morgen angeboten hatte, das Kriegsbeil zu begraben, hatte dem natürlich kein völliger Sinneswandel zugrunde gelegen. Ganz im Gegenteil: Als sie Hannahs tränenreichen Abschied von Helmut miterleben musste, hätte sie das Weib am liebsten von ihm weggerissen! Dass sie ihr stattdessen später die Freundschaft anbot, schien ihr eine Notwendigkeit. Sie wollte Hannah in Sicherheit wiegen. Sollte Hannah ruhigglauben, sie hätte wie gewohnt das Zepter in der Hand. Sie würde noch früh genug merken, dass auf der Reise die Uhren anders schlugen. Erste Anzeichen dafür gab es allerdings schon jetzt: Hier, weit weg von der gewohnten Umgebung, war Hannahs Mundwerk nicht mehr so groß, ihr Auftreten nicht mehr so laut und selbstsicher. Da! Jammerte sie nicht sogar leise vor sich hin? Und jetzt stolperte sie schon wieder über ihre eigenen Beine! So müsste Helmut seine Frau sehen!
Mit jedem Schritt, den sie dem Hof näher kamen, nahm das ungute Gefühl in Seraphines Bauch zu. Ihr Körper versteifte sich, ihre Hände ballten sich zu Fäusten, sie versuchte, den harten Knoten in
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