Die Samenhändlerin (German Edition)
dazu.
»So sind sie halt, die Reing’schmeckten!«, stellte Almuth fest, und alle nickten heftig.
38
In den nächsten Wochen entwickelte sich Seraphine zur Nachtschwärmerin im besonderen Sinn: Wenn sich alle anderen im Haus schon längst zur Ruhe gelegt hatten, trennte sie in der Küche alte Schürzen auf, um aus den Stoffresten neue zu nähen, sie stopfte Strümpfe und strickte an einem Schal. Viel lieber hätte sie an einem neuen Kleid für sich gearbeitet, doch sie konnte nirgendwo einen schönen Stoff auftreiben, und sie hatte Bedenken, das Haus so lange zu verlassen, um nach Reutlingen zu fahren und Stoff zu kaufen. Trotzdem saß sie jeden Abend so lange im Schein der Petroleumlampe mit ihren Handarbeiten am Küchenfenster, dass Wilhelmine sie verschwenderisch schimpfte. »Das teure Petroleum! Wer sein Tagwerk nicht bei Licht erledigen kann, braucht es bei Nacht nicht nachzuholen«, sagte sie, stieß jedoch auf taube Ohren.
Es war nicht so, dass Seraphine eine besondere Vorliebe für Flickarbeiten entwickelt hätte. Ganz im Gegenteil, sie hasste es, die vom vielen Waschen verfilzten Socken zu stopfen und zu wissen, dass sie eine Woche später schon wieder löchrig im Nähkorb landen würden. Aber sie hatte ein bestimmtes Ansinnen, und dafür hätte sie auch den Küchenboden mit der Zunge sauber geleckt, wenn es nötig gewesen wäre.
Für den Fall, dass Helmut und Valentin zu nachtschlafenderZeit von der Reise zurückkamen, wollte sie wach sein und die Erste, die Helmut begrüßte. Vor der Familie, vor allem aber vor Hannah.
Mühelos hatte sie die anderen davon überzeugen können, den Brüdern keinen Brief zu schreiben, um sie über den unseligen Ausgang der Elsassreise zu informieren. Dann würden sich die beiden nur unnötig Sorgen machen, war die einhellige Meinung der Familie gewesen. Bisher wussten die Brüder also nichts.
Und nun hoffte und betete Seraphine, dass Helmut und Valentin nicht bei Tag nach Hause kamen – ein Zwiegespräch mit Helmut wäre dann unmöglich gewesen. Doch in der Nacht …
Drei Tage vor Weihnachten ging ihr Wunsch in Erfüllung.
Es war nach neun, und Seraphine saß wieder einmal an einem Berg Flickwäsche, als sie das Schloss der Vordertür hörte. Wie von der Tarantel gestochen, fuhr sie auf und rannte in den Flur.
»Leise, leise, das ganze Haus schläft schon!«, begrüßte sie die Brüder und musste gegen den Drang ankämpfen, sich Helmut an den Hals zu werfen, ihn zu küssen, küssen, küssen …
Wie müde er aussah! Das Gesicht grau vor Erschöpfung, die Haare struppig, das Kinn voller Bartstoppeln, die von einem viel zu langen Tag erzählten.
»Dann wecken wir sie halt!«, dröhnte Helmut so laut, dass Seraphine innerlich winselte. »Es kommt schließlich nicht alle Tage vor, dass wir nach drei Monaten Reise nach Hause kommen, oder? Es gibt viel zu erzählen, aber zuerst brauch ich etwas zwischen die Zähne, ich bin fast am Verhungern, wir haben seit dem Morgen nichts mehr gegessen!« Polternd marschierte er in Richtung Küche.
»Seraphine, meine Liebe – wie hast du mir gefehlt …« Bevor sie etwas dagegen tun konnte, zog Valentin sie an sich. Seine Arme legten sich wie eine Krake um ihren Leib, klammerten …
Seraphine holte tief Luft und küsste ihn so innig, wie sie konnte, doch dann entwand sie sich mit aller Kraft.
»Das hat später noch Zeit«, zischte sie, während sie mit einem Ohr in Richtung Treppe lauschte. Noch waren keine Schritte zu hören.
Sie ließ Valentin stehen und lief in die Küche, wo Helmut am Herd schon den Deckel des Suppentopfes hob.
»Gerstensuppe – nicht gerade das, was ich ein Willkommensmahl nennen würde …« Er verzog missbilligend das Gesicht.
»Es ist auch Schinken da und Brot, gleich werde ich euch etwas richten«, sagte Seraphine, noch immer um eine leise Stimme bemüht. Sie packte Helmut am Arm und zog ihn zum Küchentisch. »Aber zuerst müssen wir reden, dringend! Es ist etwas vorgefallen, was du unbedingt wissen musst.« Bevor er widersprechen konnte, begann sie, ihm ihre sorgfältig zurechtgelegte Version der Vorfälle in Herrenberg vorzutragen.
»Hannah …« Helmut brachte nicht mehr als ein Krächzen heraus. Wie gelähmt hörte er sich den Rest von Seraphines Erzählung an. Das kann doch nur ein böser Traum sein, schoss es ihm durch den Kopf. Er hatte sich so auf zu Hause gefreut, auf die Wärme, die Sicherheit, auf Hannah und Flora … Und Hunger hatte er, so argen Hunger, dass er die letzten
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