Die Samenhändlerin (German Edition)
Stoß in die Rippen.
Natürlich wusste er, was Hannah meinte: Es war noch nie vorgekommen, dass sie einen ganzen Tag allein verbracht hatten. Allein und ohne Arbeit.
Er drückte ihr mit fettigen Lippen einen Kuss auf die Stirn. Auch er war glücklich. Hannahs Begeisterung war ansteckend. Durch sie begann er viele Einzelheiten des Reisens wieder neu wahrzunehmen: das ungewohnte Essen, den Geruch fremder Landschaften, die Art, in der die Menschen sich kleideten.
Spielerisch nahm er ihre rechte Hand und streichelte Finger für Finger. Wie sie mit ihren Händen im Sand gewühlt hatte! Inzwischen waren ihre Nägel weiß und blank poliert von den groben Sandkörnchen. Jede Krabbe, jede Muschel, jedes bizarr geformte Stück Treibholz war ihr einen Freudenschrei wert, am liebsten hätte sie alles gesammelt. Und dann die Holzpantinen, die es ihr so angetan hatten! Ohne Hannah hätte er an so etwas keinen Gedanken verschwendet. Aber als sie an dem kleinen Hof vorbeikamen und das Schild sahen, auf dem der Verkauf solcher Schuhe angepriesen wurde, war er es gewesen, der einen Besuch dort vorschlug. Und nun lagen fünf Paar dieser hölzernen Pantinen in einem prallen Sack neben ihnen! Ihm grauste, wenn er daran dachte, dass die schwere Last nach Gönningen geschleppt werden wollte. Andererseits waren die Schuhe auch ein Zeichen dafür, dass Hannah wieder ihren Weg ging. Der Gedanke war Helmut fast peinlich – es kam selten vor, dass er innehielt und sich solchen Gedankengängen überließ. Rasch nahm er noch einen Schluck Schnaps und reichte die Flasche dann weiter an Hannah.
Sie lehnte dankend ab und kicherte. »Wenn du soweitermachst, bist du völlig betrunken, bis Valentin und Seraphine wieder zu uns stoßen.«
»Falls das überhaupt geschieht«, brummte Helmut. »Wenn Sera anfängt zu malen, kann das Stunden dauern, das wissen wir doch. Manchmal weiß ich wirklich nicht, was in ihrem Kopf vorgeht.«
Hannahs Miene verdüsterte sich. »Ich weiß das sehr wohl – sie tut alles, um uns das Leben schwer zu machen. Aber heute schneidet sie sich damit nur ins eigene Fleisch! Der arme Valentin«, fügte sie hinzu, klang dabei aber nicht sehr mitfühlend. »Da sitzt er nun auf diesem Hof und langweilt sich, während sie ihren künstlerischen Neigungen nachgeht. Ach, vergessen wir die beiden einfach. Es gibt etwas, was ich dir sagen will …« Sie brach ab, als Helmut auf ein paar Fischer zeigte, die in einiger Entfernung gerade ihren Fang an Land brachten. Er stand auf, um besser sehen zu können, ob sich der Fischzug für die Männer gelohnt hatte.
»Was für ein Leben! Tag für Tag den Elementen der Natur so unmittelbar ausgesetzt zu sein! Diese wettergegerbten Gesichter, die vom Salz rau gewordenen Hände, die gebückten Rücken …«
»Woher kommt die Sehnsucht in deiner Stimme? Beneidest du die Leute etwa um ihr hartes Leben?«, fragte Hannah, die nun ebenfalls aufgestanden war. Mit der Hand die Augen vor der Sonne schützend, schaute sie zu, wie sich die Männer mühten, das kleine Boot ans Land zu ziehen.
»Irgendwie sind sie doch zu beneiden, oder? Jeden Tag diese Weite um sich zu haben, das macht den Kopf frei für verwegene Gedanken. Freiheit … Ja, vielleicht geht es vor allem darum.«
Hannah zog ihn zurück ins Gras. »Freiheit – mit buckligem Rücken und salzverkrusteten Händen. Und mit nichts anderem auf dem Teller als Fisch. Jeden Tag Fisch! Und gefährlich ist ihre Arbeit bestimmt auch, lebensgefährlich sogar!«
Helmut kratzte sich am Ohr. So schön dieses Plätzchen war, so lästig waren die Millionen von Sandflöhen und kleinen Mücken, die es hier gab.
»Vielleicht hast du Recht. Vielleicht sieht so ein Fischerleben von außen betrachtet viel erstrebenswerter aus, als es ist. Dieser Blick übers Meer ist schon betörend, aber von unserem Rossberg aus hat man auch einen ganz schönen Blick auf die große Welt, nicht wahr? Und eigentlich geht es uns Samenhändlern doch gut. Wenn einer die wahre Freiheit genießt, dann sind das wir!«
»Jetzt spuckt aber jemand große Töne! Was diese Freiheit betrifft: Soll ich dich daran erinnern, wie grantig du aus Odessa zurückgekommen bist, wo ihr ganz schön von oben herab behandelt worden seid? Vielleicht hättet ihr den reichen Leuten dort zuerst von eurer Freiheit erzählen sollen …«
Helmut stöhnte. »Die Reise nach Odessa war eine Erfahrung, die fürs ganze Leben reicht.« Obwohl er sich um einen leichten Ton bemühte, ärgerte es ihn, dass es
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