Die Samenhändlerin (German Edition)
Seraphine tief durch. Die Luft war an diesem Morgen klar wie Kirschwasser, und das blasse Grün der Blätter wirkte glasig.
Ihr Blick streifte über die Wiesen, die näher an Gönningenlagen. Bisher flogen nur die Vögel zwischen den Bäumen hin und her, aber schon bald würden sich dort viele Menschen einfinden, die miteinander scherzten, lachten und sangen, um die Apfelernte so angenehm wie möglich zu gestalten. Die Wiese, die Seraphines Mutter gehörte, lag etwas abseits, hierher würde sich niemand verirren.
Seraphine hatte der Apfelernte noch nie viel abgewinnen können. Selbst die Aussicht auf den frischen Apfelkuchen, den die Hausfrauen gemeinsam im Backhaus des Dorfes für die fleißigen Erntehelfer buken, änderte daran nichts. Das vorsichtige Abdrehen der Früchte von den Zweigen, das ebenso vorsichtige Aufschichten in den bereitgestellten Körben hatte sie immer langweilig gefunden. Und vom Körbeschleppen bekam sie Rückenschmerzen.
Doch an diesem Septembermorgen hatte sie es kaum erwarten können, auf die Apfelwiesen zu gehen. Denn es gab nichts Einsameres als die Schlafkammer einer verlassenen Frau. Die Kammer, in der Helmut sie beschimpft hatte. Das Bett, vor dem er ausgespuckt hatte. Diesem Raum zu entfliehen – dafür war ihr jeder Anlass recht. Bevor Wilhelmine ihr häusliche Pflichten auferlegen konnte, hatte sie sich auf den Weg zu der Wiese ihrer Mutter gemacht, um ihr bei der Ernte zu helfen. Als sie ankam, stellte sie jedoch fest, dass die Mutter noch nicht da war. Eine seltsame Enttäuschung hatte Seraphine überfallen, und um sich davon abzulenken, hatte sie einfach mit der Ernte begonnen.
Seufzend stieg sie wieder auf die Leiter. Mit jedem Apfel, den sie pflückte, wurde der Leinensack, der an einem Seil um ihre Hüfte hing, schwerer. Bald würde sie hinabsteigen und ihn leeren müssen. Drei Körbe voller Äpfel standen schon auf dem Boden, doch noch immer trug der Baum schwer an seinen Früchten. Der Duft der Goldparmänen kitzelte in ihrer Nase. Als Kind war ihr dieser Apfel immer der liebste gewesen. Nichtdes Geschmackes wegen, der leicht nussig war und ihr eigentlich nicht süß genug, sondern des Namens wegen: In Frankreich hieße derselbe Apfel »Reine des Reinettes«, hatte der Vater ihr einstmals erklärt. Die Königin der Prinzessinnen – wie zauberhaft! Von da an hatte Seraphine, wann immer sie bei den Baumwiesen vorbeikam, Ausschau gehalten nach Königinnen und Prinzessinnen. Vergeblich.
Prinzessinnen gab es nicht.
Die Sternenfee gab es auch nicht.
Neben den Goldparmänen reiften auf der Baumwiese ihrer Eltern auch noch runde Luikenäpfel, der strohgelbe große Geflammte Kardinal und der Rote Boskop.
Gedankenverloren starrte Seraphine auf den Luikenapfel in ihrer Hand. Dort, wo die Sonne ihn beschienen hatte, war er leuchtend rot, auf der Schattenseite dagegen eintönig braun. Ohne Sonne …
»Und die Erde ließ aufgehen Gras und Kraut, das sich besamte, ein jegliches nach seiner Art, und Bäume, die da Frucht trugen und ihren eigenen Samen bei sich selbst hatten, ein jeglicher nach seiner Art. Und Gott sah, dass es gut war.«
So stand es in der Bibel. Und so stand es auf dem Gobelin, der in Gottliebs Büro hinter dem Schreibtisch hing, von Wilhelmines geduldiger Hand in Kreuzstich gestickt.
Nichts war gut. Gar nichts.
Mit wackligen Knien stieg Seraphine von der Leiter und sank neben den Körben nieder.
Seit Helmut sie verlassen hatte, fühlte sie sich wie ein Vogeljunges, das lange vor seiner Zeit aus dem Nest geworfen wurde. Keine Schutzschicht mehr, alles verlor sich im Nichts. Seraphine presste ihre Hände gegen die Rippen, bis es wehtat.
Warum konnte sie nicht sein wie einer dieser Bäume? Fest verwurzelt an seinem Platz, dem ewigen Rhythmus der Jahreszeiten ergeben, ein jeglicher nach seiner Art.
Nur: Für ihre Art gab es keinen Platz, nirgendwo. Niemand wollte sie haben.
Wäre sie ein Baum gewesen, hätte sie nur faule, wurmstichige Äpfel getragen. Früchte, von außen makellos, doch kaum biss man hinein oder halbierte sie mit dem Messer – Fäulnis, nichts als Fäulnis.
Ein solcher Baum gehörte gefällt, damit er mit seiner Krankheit nicht die anderen Bäume ansteckte.
»Du bist der Teufel in Person«, hatte Helmut sie beschimpft.
Dann hatte er sie verlassen.
Mühsam schaffte sie es, sich aufzurappeln. So, wie sie es immer wieder geschafft hatte. Mechanisch griffen ihre Hände in das dichte Blattwerk der unteren Äste.
Ein Apfel nach dem
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