Die Samenhändlerin (German Edition)
wahrscheinlich die einzige Zufahrt zu einem einsam gelegenen Gehöft. Ein nicht wesentlich ebenerer Weg führte nach links. Ob der Öschen-Bürli aus einer dieser Richtungen kommen würde? Friedhelm ärgerte sich, dass er den Wirt nicht danach gefragt hatte. Und warum hatte er den Kutscher eigentlich nicht schon am Ortsende treffen können?
Es war inzwischen fast völlig dunkel geworden, nur die dünne Schneedecke spendete noch ein wenig Licht. Gänsehaut breitete sich über Friedhelms Rücken aus. Er kniff die Augen zusammen. Kein Wagen, kein Öschen-Bürli, weder auf dem rechten noch auf dem linken Feldweg. Sehr weit konnte er allerdings nicht sehen.
Er spielte schon mit dem Gedanken, zu Fuß weiterzugehen und den Öschen-Bürli samt seinem verkommenen Gefährt zu vergessen, als er im Gebüsch rechts von sich ein Knacken hörte. Erschrocken fuhr er herum. Nichts. Friedhelm blies seinen angehaltenen Atem aus, der wie eine düstere Wolke über ihm stehen blieb. Stell dich nicht an, sagte er sich. Doch unwillkürlich wanderte seine Hand zu der Tasche mit dem Geld.
Es war nicht das erste Mal, dass er allein und bei Nacht unterwegs war. Gleichzeitig wusste er, dass dies im Grunde mehr als leichtsinnig war. Es gab kaum einen Samenhändler, der alleinloszog – die Gefahren waren einfach zu groß. Zu zweit oder gar zu mehreren war man gegen Überfälle besser gewappnet, vier Augen und vier Ohren sahen und hörten nun einmal mehr. Aber wer hätte ihn schon in diese verlassene Gegend begleitet? Die meisten Gönninger Samenhändler zogen durch wohlhabendere Landschaften, hatten begütertere Kunden, größere Umsätze.
Und dennoch: Diese Reise war ein voller Erfolg gewesen! Else würde stolz auf ihn sein, und Seraphine würde große Augen machen. Seine schöne Tochter Seraphine. Der wahre Schatz in seinem Leben. In Bregenz wollte er die edelsten Spitzen für sie kaufen und ein gutes Bündel Seidenstoff noch dazu! Wie ein feiner Herr würde er das Geld dafür auf den Ladentisch legen und keine Miene dabei verziehen.
Er hörte weder das Knacken zwischen den Schilfwedeln und auch nicht die herannahenden Schritte, noch signalisierte ihm sein Körper in anderer Art die Gefahr, in der er sich befand. Zu abgelenkt war er durch seine Gedanken, zu konzentriert auf seine Rückkehr nach Gönningen.
Wie ein König würde er heimkommen –
2
Gönningen, im Dezember 1849
»Allmächt, wo bin ich hier nur hingeraten …«
Hannah kniff die Augen zusammen und starrte krampfhaft die Straße entlang.
Das Ende von Nirgendwo …
Nach zehn Minuten Fußmarsch würde sie Gönningen erreichen, hatte der Bauer gesagt, der sie von Reutlingen bis zudieser Kreuzung mitgenommen hatte. Wenn sie sich anstrengte, konnte sie durch die Nebelschwaden, die von den umliegenden Berghängen herabsanken, die Umrisse einiger Häuser erkennen. Das Einzige, was Hannah deutlich sah, waren nackte Obstbäume. Der Geruch nach gegorenem Fallobst und faulendem Laub hing in der Luft und kitzelte sie in der Nase. Hunderte von Obstbäumen links und rechts neben ihr, hinter ihr, vor ihr – im Frühjahr, wenn die Bäume in Blüte standen, war dies bestimmt ein hübscher Anblick …
Hannah ließ ihren Koffer sinken und drückte eine Hand in ihren Rücken, der steif wie der einer hölzernen Puppe war. Gleichzeitig schaute sie sich um. Keine Hecke, nichts. Wenn sie nicht bald irgendwo Wasser lassen konnte, würde ihre Blase platzen – bestimmt! Sie spielte kurz mit dem Gedanken, sich einfach auf die Straße zu hocken und … Doch im nächsten Moment verwarf sie die Idee, da eine Kutsche um die Ecke bog. Der Fahrer nickte ihr kurz zu, ohne anzuhalten oder ihr anzubieten, sie ein Stück mitzunehmen.
Dann eben nicht! Hannah bückte sich, um den Koffer wieder aufzunehmen. In der kurzen Zeit hatte der Schneematsch, der zusammen mit Pferdeäpfeln die Straße bedeckte, den Boden und die Seitenwände aus Pappe durchdrungen. Auch Hannahs Rock war bis zu den Knöcheln nass. Wütend trat sie in einen besonders widerlichen Schnee-Misthaufen, woraufhin sich der Druck auf ihre Blase noch verstärkte. Mit verkrampften Schritten marschierte sie los. Bald, bald würde sicher ein Schuppen auftauchen, hinter dem sie sich verstecken konnte. Dann würde sie ihren Rock heben, ihre Unterhose aufschnüren und … Nur nicht weiter daran denken.
Die feuchte Kälte war so durchdringend, dass Hannah das Gefühl hatte, völlig nackt zu sein. Dabei trug sie fast alles an Kleidern, was
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