Die Samenhändlerin (German Edition)
spät! Eigentlich sollte sie längst zu Hause sein, um Wilhelmine und Tante Finchen beim Herrichten des Abendbrots zur Hand zu gehen. Was mache ich hier eigentlich?, fragte sie sich stumm und ärgerte sich gleichzeitig über ihre Zögerlichkeit. Längst hätte sie aufstehen und gehen sollen!
Seit ihrer Ankunft hatte Seraphine kein Wort gesprochen. Stumm, ohne jegliche Regung hatte sie Adolf Rauschs Eröffnung gelauscht. Ganz im Gegensatz zu ihrer Mutter, die weinend zusammengebrochen war. Es war Hannah gewesen, die der Frau eine Tasse Tee gekocht und sie anschließend ins Bettgebracht hatte. Gelegentlich drang nun aus dem angrenzenden Raum ein Schluchzen zu ihnen herüber, an dem sich Seraphine nicht zu stören schien.
Endlich schaute Seraphine auf. »Mein Vater hat mich geliebt.«
Zwei silberne Tränen glitzerten in ihren Augenwinkeln. Sie warf den Kopf nach hinten, und die Tränen hinterließen eine feuchte Spur auf ihren Wangen. Die Haare, nur lose zu einem Zopf geflochten, umspielten Seraphines feine Gesichtszüge.
Wie schön sie ist, fuhr es Hannah durch den Kopf. Unwillkürlich wanderte ihr Blick hinab zu ihren eigenen rauen Händen, zu ihrem Bauch, ihrer schmucklosen Kittelschürze. Neben Seraphine fühlte sie sich wie ein hässlicher Trampel!
Warum bin ich überhaupt hergekommen?, fragte sie sich abermals. Wie konnte ich mir einbilden, Seraphine in ihrer Not helfen zu können? Wollte ich nicht nur mein eigenes schlechtes Gewissen beruhigen, indem ich ihr etwas Gutes tue?
Seraphine begann ihren Zopf zu lösen. Sorgfältig kämmte sie Strähne für Strähne mit ihren Fingern durch. »Weißt du, dass die Feen kleine Kinder stehlen?«
Hannah zuckte zusammen. Unbewusst legte sie eine Hand auf die Wölbung ihres Bauches. Wollte Seraphine ihr Angst machen?
Seraphine nickte wissend. »Doch, das tun sie. Mein Vater hat deshalb viele Jahre eine Schere über meinem Bettchen hängen lassen – ein altes Abwehrmittel gegen die Feen.« Sie seufzte. »Er hatte Angst, dass sie mich wieder abholen. Dabei wäre es mir recht gewesen, wenn sie mich geraubt hätten. Ich bin nämlich nur durch einen Irrtum hier, weißt du?«
Hannah runzelte die Stirn. Ein leichter Schauer lief über ihren Rücken. Das Mädchen war verrückt! Anders konnte man ihr Verhalten doch wohl nicht erklären. Wie hatte Helmut jemals etwas mit einem so sonderbaren Ding anfangen können? Seraphine schien wie ein Schmetterling in einen Kokongesponnen zu sein – merkte sie überhaupt, dass Hannah anwesend war?
Versonnen fuhr Seraphine fort: »Die Sternenfee hat mich hierher gebracht. Aber sie hat nicht genau hingeschaut, als sie mich in diese Hütte legte. Ich gehöre hier nicht hin. Ich gehöre …«
Ich, ich, ich – etwas anderes bekam man von Seraphine nicht zu hören! Unruhig rutschte Hannah auf ihrem glatten Stuhl nach vorn. Sie hatte genug von diesen Feengeschichten. Irgendwie machte Seraphine ihr Angst.
»Warum bist du eigentlich nicht mit deinem Vater auf die Reise gegangen?«, fragte sie in einem aggressiven Tonfall. Womöglich wäre Friedhelm Schwarz dann noch am Leben, schob sie stumm und mit bedeutungsvollem Blick hinterher … Das würde der Jungen ihr Geschwätz von Elfen und Feen schon austreiben!
Seraphine schaute sie entsetzt an. »Auf die Reise? Ich? Ich musste doch mein Brautkleid nähen …«
Hannah zuckte resigniert die Schultern. Die Welt schien sich wirklich nur um Seraphine zu drehen!
Inzwischen war Seraphine aufgesprungen. »Mein Hochzeitskleid – willst du es sehen?«
Um Himmels willen, alles, nur das nicht! Hannah stand so hastig auf, dass ihr Stuhl einen Satz nach hinten machte.
»Ich muss los. Bestimmt macht sich Wilhelmine schon Sorgen. Sie weiß nicht, dass ich hier bin …«
Seraphine lachte auf. Dünn, humorlos. »Du hast Angst, du armes, dickes Schäfchen.« Sie ging zur Tür, verstellte Hannah den Weg.
»Eines sollst du noch wissen: Helmut und ich – wir gehören zusammen. Du trägst sein Kind, du trägst seinen Namen, aber das besagt gar nichts. Unsere Liebe … sie ist etwas Einmaliges. Selbst wenn ich wollte, könnte ich sie dir nicht erklären.Helmut geht es ebenso. Deine Angst ist also unbegründet. Du kannst Helmut nicht verlieren, weil du ihn gar nicht besitzt. Ihn niemals besitzen wirst, verstehst du?« Sie lächelte sanft.
Ohne ein weiteres Wort floh Hannah aus dem Haus.
19
Für Mitte April war es erstaunlich warm. Sowohl Helmut als auch Valentin hatten ihre Jacken ausgezogen und
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