Die Samenhändlerin (German Edition)
dankend abgewinkt. Aber eines Tages war sie stutzig geworden: Warum kam Finchen abends mit geröteten Wangen, bester Laune und einer leichten Alkoholfahne zurück? Und warum sah Wilhelmine ihre Schwester nach jedem dieser Ausflüge so missmutig an? Eine Bibelstunde musste sie doch gutheißen.
»Weißt du was, Tante Finchen, heute komme ich mit!«, hatte Hannah deshalb eines Tages gesagt und die alte Frau untergehakt, bevor diese etwas hätte einwenden können. Sie waren im »Storchen« gelandet, einem der zwei Gasthäuser, die geöffnet hatten. Dort war Hannah auf eine recht illustre Runde gestoßen: Die Frau des Apothekers, die Frau des Bürgermeisters und eine Hand voll alter Damen saßen bei Likör und Branntwein an dem Tisch, der zu anderen Jahreszeiten der Stammtisch derMänner war! Bedient wurden sie von der Frau des Wirts – er selbst war ebenfalls auf der Reise. Es wurde getratscht und gekichert, und Hannah fand schnell Gefallen an dieser Runde, auch wenn die anderen Frauen erheblich älter waren als sie. Frauen, die ins Wirtshaus gingen, das hatte es in Nürnberg nicht gegeben! Und auch auf ihrer Reise nach Gönningen war sie in den Übernachtungsquartieren meist die einzige Frau in einem Wirtshaus gewesen.
»Wilhelmine glaubt, ich mache Krankenbesuche«, hatte Finchen Hannah kichernd gebeichtet. Und Hannah versprach dichtzuhalten, obwohl sie sich ziemlich sicher war, dass ihre Schwiegermutter die Sache längst durchschaute.
Seraphine ließ sich nur selten blicken. Hannah hatte angenommen, dass sie nach ihrer Verlobung mit Valentin ständiger Gast im Hause Kerner sein würde – immerhin musste eine weitere Hochzeit sowie ihr Einzug ins Haus geplant werden! Doch ihre Besuche blieben sporadisch. Wenn sie kam, unterbrach Wilhelmine sofort ihre jeweiligen Tätigkeiten, tischte Kaffee und manchmal sogar Kuchen auf und verzog sich mit ihrer zukünftigen Schwiegertochter in die gute Stube. Mit gezücktem Stift und Block erörterte sie dann mit Seraphine so wichtige Fragen wie die nach dem Blumenschmuck in der Kirche. Hannah wurde zu diesen Kaffeekränzchen nicht ausdrücklich eingeladen, setzte sich dennoch dazu, obwohl sie sich in Seraphines Gegenwart immer noch unwohl fühlte. Es wäre falsch, der zukünftigen Schwägerin aus dem Weg zu gehen, sagte sie sich. Je eher sie beide den unseligen Beginn ihrer Bekanntschaft vergaßen, desto besser war es. Doch die Treffen gestalteten sich zäh. Seraphine war schweigsam und zeigte wenig Interesse an Wilhelmines Hochzeitsvorbereitungen. Wenn Hannah es wagte, eine Idee vorzubringen oder auch nur eine von Wilhelmines Ideen zu kommentieren, bekam sie von Seraphine feindselige Blicke zugeworfen. Von Seraphine selbst kam nichts.
»Ich weiß nicht, was mit dem Mädchen los ist«, sagte Wilhelmine eines Tages irritiert. »Da versuche ich, alles so schön wie möglich zu gestalten, und sie zieht eine Miene wie sieben Tage Regenwetter! Ein bisschen undankbar ist das schon …«
Ob Seraphines Interesselosigkeit mit dem Bräutigam zusammenhing?, fragte sich Hannah argwöhnisch. War sie doch noch in Helmut verliebt? Den Gedanken schob sie so schnell wie möglich von sich – viel lieber wollte sie glauben, dass Seraphine eine schüchterne junge Frau war, die einfach nur Mühe hatte, sich in der neuen Situation zurechtzufinden. Einerseits drängte es Hannah, Seraphine dabei zu helfen – schließlich fühlte sie sich ihr gegenüber irgendwie schuldig. Andererseits spürte sie, dass Seraphine ihre Hilfe ablehnen würde. So unterließ sie alle weiteren Annäherungsversuche, obwohl sie sich sehr nach einer Freundin, einer Vertrauten sehnte. Aber ob Seraphine diese Rolle jemals würde einnehmen können, bezweifelte Hannah.
Mit jeder eintönigen Woche, die verging, freute sich Hannah mehr auf ihr Kind. Wenn der Junge – sie war überzeugt davon, dass sie einen Jungen zur Welt bringen würde – erst einmal da war, hatte sie bestimmt keine Langeweile mehr!
Mit jeder Woche, die verging, verzog sich auch der Winter ein Stückchen mehr. Hannah, die in ihrem engen Nürnberger Viertel vom Wechsel der Jahreszeiten nie viel mitbekommen hatte, kam aus dem Staunen nicht mehr heraus: Mitte Februar war das Land noch unter einer dicken Schneedecke begraben gewesen, das Auge ermüdet durch den ewig gleichen Kontrast zwischen Schwarz und Weiß. Doch Anfang März, nach wenigen warmen Tagen, sah das Land schon aus wie eine löchrig gewordene Decke: Hie und da lugte mattes Gras hervor, die
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