Die Samenhändlerin (German Edition)
lang blätterte sie nur hin und her. Das war doch verrückt! Da hatte sie Jahre in der elterlichen Küche mit dem Putzen und Schnipseln von gelben Rüben verbracht, ohne zu wissen, wie viele Arten es davon gab. »Möhren lang rot«, »Möhren halblang hellrot«, »Möhren rot, stumpf, ohne Herz« – ohne Herz ? Wie konnten die Kunden diese vielen verschiedenen Möhrensorten nur auseinander halten? Und wie gelang das Helmut und Valentin?
Hannah blätterte weiter. Auf die Möhren folgten Petersilie, Sellerie, rote Rüben und Kopfsalat, von dem es wieder unzählige Sorten gab. Dann Kohlrabi, Erbsen und vieles andere für den Kochtopf. Nach Stiefmütterchen mit lieblichen Gesichtern, wie Emma sie beschrieben hatte, suchte Hannah in dem Katalog vergeblich. Ob das Kernersche Angebot ein »Allerweltssortiment« war, von dem Emma so abfällig gesprochen hatte?
Eigentlich hatte Hannah sich vorgenommen, bis zu Helmuts Heimkehr zumindest einen Teil der angebotenen Samensorten auswendig zu lernen. Aber wie sollte sie allein die Möhren auseinander halten? Wo es noch nicht einmal Abbildungen dazu gab! Wenn sie wenigstens ansprechende Namen hätten, Namen, die man sich merken konnte – aber »Möhre lang« und »Möhre mittellang«?
Mutlos klappte Hannah den Katalog wieder zu und nahm Lappen und Putzeimer auf.
Ich muss noch viel lernen, dachte sie, während sie mit kräftigen Bewegungen die Oberfläche des Packtisches bearbeitete. Aber dafür ist ja auch genügend Zeit …
18
Die nächsten Wochen vergingen in einem eintönigen Gleichklang. Nach dem Morgenmahl setzte sich Wilhelmine mit ihrer Bibel oder einer Strickarbeit ans Küchenfenster. Dort verbrachte sie die Zeit bis zum Mittagessen aber vor allem damit, auf die Straße zu schauen und zu jedem, der vorüberging, einen Kommentar abzugeben. Nach wenigen Tagen kannte Hannah, die sich meist ebenfalls in der Küche aufhielt, weil dies der wärmste Ort des Hauses war, die Gewohnheiten der zu Hause gebliebenen Gönninger in- und auswendig: Die dicke Marianne von nebenan tat nur so, als würde sie die Straße kehren, in Wirklichkeit nutzte sie jede Gelegenheit zu einem Schwätzchen. Die Apothekersgattin ging drei Mal am Tag zu Almuth in den Laden – jedes Mal, wenn sie am Kernerschen Haus vorüberging, fragte sich Wilhelmine laut, was die Frau wohl bei Almuth wollte. Um die Mittagszeit, wenn die Schule zu Ende war, wurde es kurzzeitig laut in den Gassen. Dann verschwand Wilhelmine von ihrem Aussichtsplatz, mürrisch vor sich hin murmelnd. Hannah fragte sich jedes Mal, ob sie einem weiteren Streit über die Kinder aus dem Weg gehen wollte. Dabei wäre ihr selbst durchaus ein wenig nach Streiten zumute gewesen! Es hätte zumindest vorübergehend die Langeweile vertrieben … Andererseits wollte sie es sich natürlich nicht mit der Schwiegermutter verscherzen.
Weil das Putzen und Waschen allein sie nicht auslastete, übernahm Hannah auch noch das Kochen: herzhafte, einfache Speisen, wie ihre Mutter sie in der Wirtsstube servierte. Manchmal, wenn Hannah in zwei oder drei Töpfen gleichzeitig rührte, konnte sie sich für einen seligen Moment vorstellen, wieder in Nürnberg zu sein. Bei der Mutter, die bei allen Arbeiten stets vor sich hin sang. Sie vermisste ihre Mutter mindestens so sehr, wie sie Helmut vermisste. »Da bin ich nun eineEhefrau und habe doch keinen Mann um mich«, schrieb sie in einem ihrer zahlreichen Briefe.
Nachmittags verließ Wilhelmine mit ihrer Bibel das Haus, um an einem der Bibelkreise teilzunehmen. Aus lauter Langeweile hatte Hannah sie einmal begleitet. Es war das erste und das letzte Mal, schwor sie sich. Nachdem man gemeinsam eine nicht enden wollende Passage gelesen hatte, wurde gesungen – vom Alter brüchig gewordene Frauenstimmen, jede bemüht, nicht allzu laut zu werden, ohne jegliche Höhen und Tiefen. Manchmal besuchte Wilhelmine auch alte Leute, die bettlägerig waren oder so schlecht zu Fuß, dass sie nicht mehr aus dem Haus kamen. »Ich sitze heute bei der Paula«, sagte sie dann. Das »Sitzen« war wörtlich zu nehmen, hatte Hannah festgestellt: Wilhelmine leistete Gesellschaft – geredet wurde dabei nicht viel. Scheinbar reichte den Alten die Anwesenheit eines Menschen, um die Eintönigkeit ihres Alltags zu unterbrechen.
An manchen Nachmittagen schlich sich auch Tante Finchen davon, aber erst, nachdem Wilhelmine fort war. Im Gegensatz zu Wilhelmine fragte sie Hannah nicht, ob sie mitkommen wolle. Hannah hätte auch stets
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