Die Samenhändlerin (German Edition)
Gönninger Gemarkung sei zum einen durch Erbteilung völlig zerstückelt, zum anderen seien für die ständig wachsende Bevölkerung einfach nicht genügend Äcker vorhanden, hatte Helmut ihr erklärt.
»Das ist ja das Problem: Immer mehr Gönninger müssen sich den spärlichen Boden teilen. Wenn es genügend Anbauflächen gäbe und wir alle vom Getreide- und Gemüseanbau satt würden, wären unsere Vorväter doch nie auf die Idee gekommen, draußen in der weiten Welt ihr Geld zu verdienen! So aber haben sie irgendwann aus der Not eine Tugend gemacht …«
Zufrieden schaute Hannah auf die Reihe mit den Kohlrabistecklingen. Sie nahm den Fetzen Packpapier, der mit den Pflänzchen in der Saatschale gesteckt hatte. »Kohlrabi, zart und fein, schnellwüchsig«, las sie. Zweifelnd schaute sie auf die schmalen Holzspäne, die Helmut ihr zusammen mit einem Bleistift dagelassen hatte. Sie solle die Holzspäne beschriften und dann in die Erde stecken, so dass man immer wusste, in welcher Reihe des Feldes was wuchs. Aber »Kohlrabi, zart und fein, schnellwüchsig«? Bis sie das auf dem Holzspan untergebracht hatte, konnte sie doch gleich mit der Ernte beginnen! Sie schrieb: »Kohlrabi, schnelle Ernte«. Ha – das war doch was! Frohen Mutes nahm sie den nächsten Holzspan und schrieb statt »Salatgurke, mittellang, hellfleischig« schlicht und einfach »Grüne Schlangen«. Darunter konnte man sich etwas vorstellen! Zufrieden mit ihrem Einfall machte Hannah weiter. Schrieb für den Endiviensalat, den Valentin als kraus und etwas zäh bezeichnet hatte, »Gönninger Trotzköpfle«, und einezweite Salatsorte, die laut den Brüdern besonders ertragreich war, nannte sie »Kopfsalat volle Schüssel«.
Das Erfinden von Namen machte ihr so viel Spaß, dass sie selbst die Schmerzen im Unterleib weniger spürte. »Volle Schüssel« – oje, sie musste aufpassen, nicht über die Stränge zu schlagen! Trotzdem schrieb sie auf den Holzspan für die Erbsen, die sie gerade ausgesät hatte, »Grüne Liebesperlen«. Ein Kichern unterdrückend, stellte sie sich Wilhelmines Gesicht vor, wenn sich die Schwiegermutter daran machte, gemeinsam mit ihr grüne Liebesperlen zu ernten! Helmuts Mutter hatte das Lachen schließlich nicht gerade erfunden. Tante Finchen war da anders, viel fröhlicher, doch auch sie verkniff sich in Wilhelmines Gegenwart meist das Lachen. Hannah seufzte einmal kurz auf und grübelte dann über einen besonders verwegenen Namen für eine Bohnensorte.
Wenig später war sie gerade dabei, zufrieden ihr Werk zu betrachten, als sie etwas Warmes, Nasses zwischen ihren Beinen spürte. Entsetzt starrte sie auf den Flecken dunkelbrauner, morastiger Erde vor ihr. Ihr Fruchtwasser war abgegangen, hatte sich auf einen Teil der Setzlinge ergossen.
»Allmächt, das Kind kommt! Helmut!«
22
Sie nannten ihre Tochter Flora. Es war Helmut, der diesen Namen vorschlug. Ein Kind, das sozusagen mitten auf dem Acker, in der erblühenden Natur an die Tür der Welt klopfte, könne doch gar keinen anderen Namen bekommen als den der Göttin der Blumen. Außerdem passe Flora ausgezeichnet zu der Tochter eines Samenhändlers, argumentierte er gegenüber seinen Eltern, die den Namen für zu ungewöhnlich hielten.Mädchen hießen in Gönningen Klara, Martha oder Liesel – aber Flora? Und was ist mit Seraphine?, wollte Helmut wissen, erntete für diesen Einwand aber nur ein Schulterzucken.
Hannah, die den Wortwechsel matt, aber glücklich von ihrem Lager auf der Küchenbank aus verfolgte, lächelte in sich hinein. Dass Flora der Name einer Göttin war, hatte sie noch nie gehört. Dass ein Vater sich derart vehement für den Namen seines Kindes einsetzte, auch noch nicht. Für sie war es ein gutes Zeichen: Helmut schien über die Geburt einer Tochter mindestens ebenso erfreut zu sein, wie er es bei einem Sohn gewesen wäre. Im Gegensatz zu ihr. Sie hatte so fest daran geglaubt, einen Jungen unter dem Herzen zu tragen! Aber lange hielt Hannahs Enttäuschung nicht an, und Flora gewann vom ersten Moment an ihr Herz.
Sie war ein ausgesprochen schönes Kind. Schon kurz nach der Geburt konnte man ihre feinen Gesichtszüge erkennen, und die ungewöhnlich weit auseinander stehenden Augen verliehen ihr einen hellen, wachen Ausdruck. Auch war sie nicht unbehaart zur Welt gekommen wie so viele Säuglinge, sondern sie war schwarzhaarig, wie ihre Mutter. Hannah konnte sich stundenlang damit beschäftigen, ihre Tochter anzuschauen. Dass Helmut und sie solch
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