Die Samenhändlerin (German Edition)
zugesetzt als befürchtet, und nun genießen wir die großzügige Gastfreundschaft unseres Großcousins Leonard. Das Zuckerbackwerk seiner Frau Eleonore hat die karge Verpflegung während der Schiffsreise längst wieder wettgemacht – wenn das so weitergeht, werden wir dick und rund nach Hause kommen!
Ach Seraphine, wie oft ich in dieser Stadt an dich denken muss! Diese Pracht, diese Schönheit an allen Ecken – dein künstlerisches Auge hätte seine wahre Freude daran!«
Hannah ließ den Brief sinken. Warum konnte Helmut nicht ebenso schreiben? Unter niedergeschlagenen Lidern warf sie ihrer Schwägerin einen Blick zu, die scheinbar unberührt und ohne ihre Arbeit zu unterbrechen zuhörte. Wusste Seraphine Valentins innige Zeilen gar nicht zu schätzen? Undankbares Geschöpf!
»Was die Geschäfte angeht, ist Odessa allerdings alles andere als ein leichtes Pflaster. Sicher, reiche Leute gibt es genug, aber ihre Vorstellungen entsprechen wohl nicht ganz dem, was wir dabeihaben. Helmut hat erst gestern wieder gesagt, er –«
»Helmut? Was hat Helmut gesagt?« Wie von der Tarantel gestochen fuhr Seraphine auf.
»Was heißt das, die Vorstellungen der Kunden entsprechen nicht dem, was unsere Männer dabeihaben?« Auf Wilhelmines Stirn erschien eine Sorgenfalte.
Hannah überflog die nächsten Zeilen. »Näheres sagt er dazu nicht. Er schreibt nur, dass Helmut ziemlich verärgert ist und dass beiden allmählich die Lust am Verkaufen vergeht …« Sie schüttelte den Kopf. »Seltsam.«
»So kenne ich meine Jungen auch nicht.« Wilhelmine seufzte schwer. »Oje, das darf ich gar nicht dem Gottlieb erzählen. Dann heißt es nur wieder: Hätten die Buben auf mich gehört! Und ganz Unrecht hat er damit nicht. Gottliebs alter ergiebiger Samenstrich im Elsass verwaist, und die beiden treiben sich irgendwo in Russland herum!«
Seraphine riss Hannah den Brief aus der Hand, überflog ihn rasch.
»Da gibt es nichts zu deuteln: Russland bekommt denbeiden nicht! Aber ist das ein Wunder? Ach, wäre es doch nur nie so weit gekommen! Und wem wir das zu verdanken haben, wissen wir alle nur zu gut …« Sie warf Hannah einen giftigen Blick zu. »Und der arme Helmut traut sich nicht einmal, seine Sorgen zu offenbaren«, murmelte sie vor sich hin.
»Der arme Helmut – verflixt nochmal!«, schrie Hannah. »Helmut ist nicht arm. Er wollte unter allen Umständen nach Russland! Das war sein Traum! Und Valentins ebenfalls. Vor ihrer Abreise hast du doch ständig so getan, als würdest du dies gut verstehen! Aber nun, wo es scheinbar nicht so gut läuft, ist er auf einmal der ›arme‹ Helmut. Auf solches Geschwätz kann ich verzichten!« Atemlos schluckte Hannah die Spucke hinunter, die sich vor lauter Aufregung in ihrem Mund angesammelt hatte. Wie Gift, das sie versprühen wollte.
»Was hat sie denn nun schon wieder in den falschen Hals bekommen?«, wandte sich Seraphine kopfschüttelnd an Wilhelmine. »Ich habe doch gar nichts gesagt.« In ihrer Stimme lag eine arrogante Überheblichkeit, die für Hannah nicht zu überhören war. Als ob sie über ein unverständiges Kind redete! Dieses Weibsstück!
Nun schlug auch noch Wilhelmine in dieselbe Kerbe. »Es gibt wirklich keinen Grund, derart aufzubrausen. Und dabei auch noch zu fluchen. Du benimmst dich gotteslästerlich!«, tadelte sie Hannah. »Sieh, jetzt hast du mit deinem Gebrüll das Kind geweckt.« Sie wollte schon aufstehen und zur Wiege gehen, als Hannah ihr eine Hand auf die Schulter legte.
»Lass nur, um Flora kümmere ich mich selbst!«, sagte sie eisig. Rigoros bugsierte sie die Wiege aus dem Zimmer und ließ die Tür knallend hinter sich ins Schloss fallen.
Sollten sie ihr doch alle gestohlen bleiben!
Einen Schal um Hals und Ohren gewickelt, ein dickes Schaffell über Floras Kinderwagen gelegt, spazierte Hannah durch dieverwaisten Gönninger Straßen. In manchen Häusern brannte schon Licht, andere warteten dunkel und einsam auf die Rückkehr ihrer Bewohner.
Tränen, für die sie sich hasste, liefen über Hannahs Gesicht. Warum heulte sie? Weil ein paar Häuser dunkel waren? So ein Blödsinn! Sie konnte sich nicht erinnern, in Nürnberg je derart nah am Wasser gebaut zu haben.
Wann war sie nur so weinerlich geworden?
Ihr Blick wanderte nach oben in Richtung der steilen Albhänge, die ihre langen, breiten Schatten ins Tal warfen. Obwohl es erst früher Nachmittag war, neigte sich das Tageslicht schon dem Ende zu. Dabei lag Lichtmess längst hinter ihnen, und
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