Die Samenhändlerin (German Edition)
vermisst …« – oder mich, fügte sie im Stillen hinzu.
Wilhelmine lachte. »Kind, du musst wirklich noch einiges lernen. Unsere Männer sind doch nicht zum Spaß auf Reisen! Da geht’s nur ums Geschäft. Oder wäre es dir lieber, er würde dir von allen möglichen Zerstreuungen erzählen, die er unterwegs genießt?«
Hannah verzog das Gesicht. »Natürlich nicht.«
»Helmut ist nun einmal ein praktischer Mensch. Das Schreiben ist nicht seine Leidenschaft, nicht wahr, Mutter Wilhelmine?«, zischte Seraphine durch zusammengebissene Zähne, mit denen sie gerade das lose Ende einer Paketschnur festhielt, während sie das andere darumschlang.
Nachdem sie auch noch die letzten Zeilen gelesen hatte, reichte Hannah den Brief an Wilhelmine weiter, die begierig danach griff.
»Du brauchst mir nicht zu erklären, wie es in Helmut aussieht!«, fuhr sie Seraphine an. »Immerhin bin ich mit ihm verheiratet«, setzte sie noch hinzu und kam sich dabei etwas kindisch vor.
Seraphines Blick war vielsagend.
Hannah reagierte nicht darauf. Wie hatte sie sich gefreut, alsder Briefträger heute mit dem dicken Umschlag ankam! Und was war aus ihrer Freude geworden …
Krampfhaft versuchte sie, sich wieder auf das gute Dutzend Samentütchen zu konzentrieren, das vor ihr auf dem Tisch lag. Hatte sie alles für Herrn Stanecik herausgesucht? Hatte sie sich auch nicht in der Menge vertan? Und hatte sie auch daran gedacht, ein paar Sonnenblumensamen als kostenlose Dreingabe beizulegen? Nachdem sie alles ein letztes Mal mit der Seite im Bestellbuch verglichen hatte, schob sie den Korb mit den Tüten hinüber zu Seraphine, die für das Verpacken und Adressieren zuständig war. Sollten sich doch ihre Finger verkrampfen, wenn sie die Pakete mit komplizierten böhmischen Namen wie Zdenek Stanecik oder Bohumil Dolezil beschriftete!
Ohne rechte Lust blätterte Hannah zur nächsten Seite im Bestellbuch. Sehnsüchtig wanderte ihr Blick dabei hinüber zu der Wiege am Fenster, wo Flora selig vor sich hin schlummerte. Wenn die Kleine wenigstens schreien würde! Dann hätte sie sie hochnehmen und ein wenig an die frische Luft gehen können. Dann hätte sie durchatmen, dem Gefühl, zu ersticken, entrinnen können.
Seit Helmuts Bestellbuch in dem dicken Briefumschlag eingetroffen war, saßen die drei Frauen jeden Tag in der Packstube, um Seite für Seite die Aufträge auszuführen. Schon drei Mal waren sie mit dem Fuhrwerk eines Nachbarn in Tübingen auf der Post gewesen und hatten jedes Mal eine Wagenladung voller Pakete auf den Weg gebracht. Heute wollten sie den Rest erledigen.
An und für sich machte Hannah die Arbeit Spaß. Das Falten und Beschriften der Papiertütchen, das Abmessen der einzelnen Samensorten mit den verschiedenen Löffelchen, ja, sogar das Gefühl der verschiedenen Samenformen in ihrer Hand liebte sie: dicke runde Samen und schmale längliche, manche waren so zart, dass Hannah Mühe hatte, sich vorzustellen, dassdaraus einmal eine Möhre oder ein Rettich werden sollte. Trotz kleiner Meinungsverschiedenheiten arbeitete sie gern mit Seraphine und Wilhelmine zusammen. Und Arbeit bedeutete Abwechslung, eine willkommene Unterbrechung des langweiligen Alltags.
Aber in letzter Zeit machte Hannah gar nichts mehr Spaß.
Unwillig schob sie die Bestellung eines Herrn Vaclav Kovaz von sich.
»Was schreibt eigentlich Valentin?«
Ohne auf Seraphines Erwiderung zu warten, schnappte sie sich den Briefumschlag, der in der Tischmitte lag.
»Der ist ja noch gar nicht geöffnet!«
Interessierte Seraphine denn gar nicht, was ihr Mann zu erzählen hatte? Vorsichtig begann sie, mit dem Zeigefinger das dünne Papier aufzuschlitzen.
»Hannah! Du kannst doch nicht einfach fremde Post öffnen! Das gehört sich nicht«, sagte Wilhelmine tadelnd.
Hannah zuckte mit den Schultern. »Warum nicht? Seraphine ist in dieser Hinsicht auch nicht gerade zurückhaltend.«
Schon drei Mal war es vorgekommen, dass die Schwägerin einen von Helmuts Briefen geöffnet hatte. »Aus Versehen«, wie sie später sagte. Hannah hatte ihr natürlich nicht geglaubt. Groß und deutlich hatte ihr Name auf dem Umschlag gestanden, genau wie auf diesem hier Seraphines Name stand. Man musste schon mit Blindheit geschlagen sein, um »versehentlich« den falschen Brief zu öffnen!
»Geliebte Seraphine«, begann sie laut vorzulesen.
» Ich hoffe, wenn du diese Zeilen liest, bist du wohlbehalten und bei bester Gesundheit.
Uns hat die lange Reise nach Odessa weniger
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