Die Samenhändlerin (German Edition)
Liebe geht durch den Magen – dieses Sprichwort gilt für russische Männer mindestens ebenso wie für württembergische. Durch Eleonores Törtchen wurde der Heiratswert so mancher jungen Dame enorm gesteigert …«
Die drei lachten.
»Eine verrückte Geschichte!« Valentin schüttelte den Kopf. »Und was ist aus dieser Schule geworden? Gibt es sie noch?«
»Und ob! Inzwischen wurde sie zu einer Hauswirtschaftlichen Schule ausgeweitet, in der neben dem Kochen und Backen noch weitere Fertigkeiten gelehrt werden. Sowohl Eleonore als auch Bettina, Margarete und Maria sind dort als Lehrerinnen beschäftigt. Ich selbst habe natürlich mit der ganzen Sache nichts zu tun, habe damals lediglich die Formulare für die Genehmigung bei der Stadt unterschrieben. Dass ein Weib eine Schule eröffnen will, war selbst den Russen ein wenig unheimlich, obwohl sie in dieser Richtung ziemlich fortschrittlich sind.«
Leonard zuckte mit den Schultern, als wolle er seine Rolle bei der ganzen Angelegenheit so weit wie möglich herunterspielen. Im nächsten Moment aber schwoll seine Brust an wie die eines Gockels.
»Meine Welt liegt da unten.« Sein Kinn wies ungefähr in die Richtung des Freihafens. »Nachdem er 1819 eröffnet worden war, habe ich schnell meine Chance erkannt …«
»Und verrätst du uns auch, worin diese Chance lag?« Helmut rülpste. Das viele Essen, der schwere Wein und die ganzen Erzählungen schlugen ihm allmählich auf den Magen.
»Dazu müsste ich eigentlich länger ausholen und ein wenig von Odessas Geschichte erzählen. Aber um es kurz zu machen: Der Hafen bedeutete den Durchbruch für unsere Stadt. Nun wurde der Traum von Katharina der Großen wahr, die aus Odessa ein Fenster zum Süden machen wollte. Der zollfreie Hafen lockte eine Unmenge ausländischer Geldgeber hierher, plötzlich gab es Waren aller Art aus aller Herren Länder – und diese Waren mussten verkauft werden! Englisches Zinn, Seide aus Indien, eine Schiffsladung Porzellan aus China, Tonnen voller Gewürze aus Asien – es bedurfte lediglich guter Kontakte, um all die feinen Güter umzuschlagen.« Leonard rieb sich die Hände, als freue er sich noch heute über die damaligen Erfolge. »So ist aus dem kleinen Krämerladen ›Leonards‹ ein Großhandelsunternehmen geworden.« Er hielt inne und seufzte tief. »Natürlich hat alles zwei Seiten. Für die einheimischen Handwerker wurde es mit der Zeit immer schwieriger, ihre eigenen Produkte zu verkaufen. Wer wollte noch schlecht geschmiedete Messer kaufen, wenn doch Schiffsladungen voller Solinger Qualitätsware hier eintrafen? Segen für die einen, Fluch für die anderen – so wird es wohl immer sein. Viele würden den Freihafen lieber heute als morgen schließen …«
Die Ellenbogen auf den Tisch gestützt, beugte sich Leonard nach vorn.
»Doch genug von mir! Ich sehe euch an den Nasenspitzen an, dass ihr mehr als bereit seid, euch auch ein Stück vom Odessiter Kuchen abzuschneiden!«
Helmut lachte auf. »Richtig erkannt! Warum reden wir zur Abwechslung nicht mal über den Handel mit Blumensamen …«
Und das taten sie für den Rest des Nachmittags. In Leonards Haus setzten sie ihre Gespräche fort, wobei sowohl Eleonore als auch Lea einiges beizutragen hatten. Beide hatten mit denwohlhabenden Familien der Stadt zu tun – Eleonore durch ihre Schule, Lea durch ihren Ehemann, den bewunderten Musiker. Sie kannten sich in dem fein ziselierten Uhrwerk, das Odessa am Laufen hielt, bestens aus.
Odessa war eine ungewöhnliche Stadt mit ungewöhnlichen Menschen. Wer hier Geschäfte machen wollte, war gut beraten, sich dies immer vor Augen zu halten.
Mit dem Freihafen war nicht nur eine Menge Geld und Ware, sondern auch eine ganz neue Kultur ins Land gekommen. Plötzlich begannen die Russen, über ihren eigenen Tellerrand hinwegzuschauen – so drückte es Eleonore aus. Italienische und französische Architekten kamen in Mode, und die brachten ihren eigenen Stil mit. Neben russischen Niello-Vasen fand man nun in den Herrenhäusern auch Porzellan aus Sèvres, Delfter Kacheln und feinstes böhmisches Kristall. Düstere flämische Stillleben hingen Seite an Seite mit düsteren russischen Stillleben. Chinesische Lackmalereien verdrängten in manchen Häusern sogar die Ikonen. Italienische Freskenmaler wurden ins Land geholt, um Decken ganzer Säle auszumalen. Alte russische mythologische Wesen – wie Sirin, halb Mädchen, halb Vogel, mit Schwanzfedern und Brüsten, das zur Abwehr böser
Weitere Kostenlose Bücher