Die Samenhändlerin (German Edition)
die Tage wurden eigentlich schon wieder länger. Aber davon merkte Hannah nichts. Hier muss man doch trübsinnig werden, dachte sie grimmig. Gleichzeitig wusste sie, dass nicht der Winter und seine kurzen Tage, nicht die Berghänge der Schwäbischen Alb an ihrem Trübsinn schuld waren.
Es war Helmut.
Er fehlte ihr so!
Ach, wenn sie diesen Mann nur nicht so sehr lieben würde! Dann hätte sie auch nicht so viel Angst haben müssen. Angst davor, sein Geruch in seinem Kopfkissen könne endgültig verblassen. Angst, seine Stimme, sein Lachen aus ihrem Ohr zu verlieren.
Angst machte traurig und wütend. Hannah hasste Angst. Und sie hasste Gönningen mit seinem schrecklichen Samenhandel!
Warum hatte sie nicht in einem Dorf landen können, dessen Bewohner von Ackerbau und Viehzucht lebten? Wo die Männer abends nach Hause kamen und gemeinsam mit den Frauen eine ordentliche Brotzeit genossen? Wo es regelmäßige Feste gab, wo getanzt und gefeiert wurde? Gönningen dagegen wurde vom Rhythmus der Handelsreisen bestimmt. Wie sehrdieser Rhythmus ihr eigenes Leben beeinflusste, hatte sie Anfang Januar am eigenen Leib erfahren müssen.
Es war ihr erster Hochzeitstag gewesen und ihr Ehemann ein paar Tausend Meilen von ihr entfernt. Kein Mensch hatte ein Wort darüber verloren. Im Hause Kerner wurde wegen so etwas nicht viel Aufhebens gemacht. Allein war Hannah mit Flora auf den Rossberg marschiert und hatte lange in die Richtung gestarrt, in der sie Russland vermutete. Dann hatte sie eine kleine Kerze entzündet und für Helmuts baldige, gesunde Rückkehr gebetet. Ob Helmut auch an sie dachte? Sie wusste es nicht.
Schon das Weihnachtsfest war nicht besonders fröhlich gewesen. Wie eine alte Jungfer hatte sie es mit Wilhelmine und Gottlieb verbracht. Helmuts Schwester war samt Gatten aus Reutlingen angereist. Obwohl die beiden ständig gestritten und sich giftige Worte wie spitze Hölzchen zugeworfen hatten, beneidete Hannah sie. Lieber ein Ehemann zum Streiten als gar keiner!
Im Jahr zuvor, als Hannah allein und einsam in Emmas Gästezimmer gesessen hatte, hatte sie sich noch ausgemalt, wie schön die Zukunft sein könnte.
»Träume sind Schäume«, murmelte sie nun vor sich hin und warf Flora, die interessiert um sich guckte, ein Lächeln zu.
Die anderen schienen gar nicht zu merken, wie traurig alles war. Wilhelmine und Gottlieb taten so, als wäre es völlig normal, Weihnachten ohne die Söhne zu feiern. Wilhelmine besuchte ihre alten Leute, pflegte allerdings Tante Finchen, die mit einer Erkältung im Bett lag, mehr schlecht als recht. Gottlieb ging völlig in seiner neuen Tätigkeit als Gemeinderat auf – am liebsten hätte er sich auch noch am Heiligen Abend in seinen Akten vergraben! Und Seraphine? Die gab sich unerträglich selbstzufrieden, anders konnte Hannah es nicht bezeichnen. Fast hätte man den Eindruck bekommen können, siewäre froh, Valentin los zu sein. Seit seiner Abreise wirkte sie nicht mehr so müde wie sonst, ja, man konnte sie beinahe fleißig nennen: Sie werkelte hier etwas herum, malte häufig – inzwischen war sie an einem zweiten Musterbuch für Blumensamen – oder las eines der besinnlichen Bücher, die Wilhelmine wie einen Schatz hütete. Manchmal dichtete sie auch. Einmal hatte Seraphine das Heft, in das sie ihre Gedichte schrieb, versehentlich in der guten Stube liegen lassen. Hannah hatte sich nicht verkneifen können, einen Blick hineinzuwerfen. Von einer Sternenfee war da die Rede gewesen. Und von anderen seltsamen Sachen. Hannah wusste nicht, ob sie über die Zeilen, in denen Worte wie »Sehnsucht«, »Schmerz« und »Verzehren« besonders häufig vorkamen, lachen oder weinen sollte. Ha! Dafür wusste sie genau, wonach sich ihre Schwägerin verzehrte: Sie heulte noch immer ihrer alten Liebe nach!
Als sie Emma von dieser Entdeckung erzählte, wollte diese wissen, ob der Name Helmut denn in irgendeinem Gedicht auftauchte. Natürlich nicht, erwiderte Hannah, Seraphine sei doch nicht dumm. Dann ist gar nicht bewiesen, dass sich ihr Herzeleid überhaupt auf Helmut bezieht, hatte Emma geantwortet. Und dass sie, Hannah, sich etwas einbilden würde.
Wie auch immer: handarbeiten, lesen, dichten – Hannah hatte für derlei Zeitvertreib nichts übrig. All das war so langweilig!
Ach, wie sie die Geschäftigkeit im »Goldenen Anker« in Nürnberg vermisste! Die Gäste, das Durcheinander, das ständige Kommen und Gehen. Hitzige Gespräche über zu vielen Krügen Bier, herausfordernde
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