Die San-Diego-Mission
spüren bekam, war schlimmer als der, unter dem die anderen zu leiden hatten. Alles in allem hatten sie zahllose Gründe gehabt, in die Canyons zu gehen: Sie hatten ihren abwesenden Vätern, toten Vätern oder sterbenden Vätern irgend etwas beweisen wollen. Sie hatten sich selbst beweisen wollen, daß sie es wert waren, von ihren weißen Kollegen anerkannt zu werden. Sie hatten schneller Karriere machen wollen. Schließlich und endlich hatten sie die Liebe der Großen Hure erringen und Verabredungen mit dem Schicksal treffen wollen. Und manchmal, gewissermaßen als Randerscheinung, hatten sie sogar den Hilflosen helfen wollen.
Manny selbst hatte es ja zugegeben: »Nur Dick Snider hatte saubere Motive, und zwar bis zuletzt.«
Nach Dick Sniders felsenfester Überzeugung hatte es mindestens genausoviel Sinn, für die Grenzgänger in den Canyons Menschenleben aufs Spiel zu setzen, wie für die Bürger von La Jolla. Er war derjenige, der den Grundsatz prägte: Wir sollten es nur tun und nur dann fortsetzen, wenn es wert ist, dafür zu sterben.
Auf ihn traf es zu. Nur einen Monat nach dem Ende von BARF erlebte er was Erschreckendes. Er war gerade von einer fünfstündigen Ganovenjagd aus San Ysidro in die Southern Substation zurückgekommen. Er ging ins Büro, um seinen Kram wegzuhängen, und wollte gerade nach Hause gehen, als er plötzlich das Gefühl hatte, ein Vorschlaghammer habe seine Brust durchschlagen und sei in ihr steckengeblieben. Ihm wurde schwindlig. Er spürte ein heftiges Brummen im Kopf. Einen grausamen Schmerz seitlich im Genick. Sein Herz fing an, unregelmäßig zu schlagen. Er stand auf und ging aus seinem Büro in das Büro des Captains. Er setzte sich.
Die Sekretärin des Captains guckte ihn an und fragte: »Alles okay?«
Nichts war okay. Er erinnerte sich später allenfalls noch an die Ambulanzfahrt mit Renee Camacho ins Hospital. Er bekam keine Luft. Er blieb drei Tage im Hospital. Er dachte, es sei eine massive Herzattacke. Es war nicht mal eine leichte. Der Arzt erzählte ihm was von Hyperventilation. Der Arzt erzählte was von Streß. Der Arzt fragte den großen Cop, ob er in letzter Zeit irgendwelche ungewöhnlichen Frustrationen oder Enttäuschungen erlebt oder Angst gehabt hätte. Es war beinahe zu albern, darauf zu antworten.
Dick Snider nahm seinen Dienst wieder auf. Die Kommune von San Diego stellte fest, die Attacke könne auf gar keinen Fall mit seinem Job zusammenhängen. Dick Snider wurde von der Southern Substation in den Nachrichtenbunker versetzt, der unter einer Feuerwache lag.
Dick Snider war ganz weit weg von den Canyons und von seinen Cops, von der Grenze und von all den Dingen, die so viele Jahre lang der Inhalt seines Lebens gewesen waren. Der inoffizielle »Bürgermeister von San Ysidro« war gestürzt worden, sein großes Experiment gab es nicht mehr. Und für die Grenzgänger hatte sich nichts geändert.
Dick Sniders Karriere war im Keller. Genau gesagt, ein paar Etagen unter dem Keller. Er sah sich in seiner neuen Umgebung unterhalb der Straße um und sagte: »Na ja. Genausogut hätten sie mich beerdigen können. Und im Grunde haben sie es ja auch getan.«
Als Präsident Reagan sein erstes volles Amtsjahr hinter sich hatte und alle Anzeichen darauf hindeuteten, daß seine Administration längst nicht mehr den Elan jener ersten Monate besaß, erlitt Dick Snider den nächsten Anfall. Diesmal passierte es morgens um zehn zu Hause. Diesmal dachte er wahrhaftig, er müsse sterben. Es war schlimmer als das erste Mal. Er war wie gelähmt. Er konnte kaum sprechen, bis er ins Hospital gebracht wurde. Dort mußten sie ihm erklären, was Hyperventilation wirklich ist, und sie sagten ihm außerdem, daß eine Ohnmacht häufig das beste ist, was dem Patienten passieren kann, weil die Sauerstoff- und Stickstoffhaushalte sich dann selbst regulieren können.
Dick Snider blinzelte bloß durch den Rauch seiner Zigarette, hatte sowieso das Gefühl, sein Herz sei höchstens so stabil wie ein Peso, und sagte in seinem Countrysingsang: »Ehrlich, Kamerad, ich will's ja glauben. Aber ich hab ja eigentlich wenig davon, daß es mir besser geht, wenn ich andauernd weggetreten bin.«
Sie entschlossen sich, ihn einem Psychiater vorzustellen, und damit war er der dritte Teilnehmer des Experiments, der sich auf seinen Geisteszustand untersuchen lassen mußte. Der zuständige Facharzt kam zu der Überzeugung, Lieutenant Burl Richard Snider leide an einer »psychophysiologischen
Weitere Kostenlose Bücher