Die San-Diego-Mission
kardiovaskulären Reaktion und labiler Hypertonie« und solle deshalb möglichst nicht mehr als Polizeibeamter tätig sein. Für seinen Zustand sei sein Job auf jeden Fall hundertprozentig verantwortlich zu machen. Mit anderen Worten, Dick Snider kriegte eine Streßpension. Und schon wieder hatte einer den Polizeidienst quittiert.
Dick Snider hatte mittlerweile erkannt, welche Fehler gemacht worden waren, fühlte sich in gewisser Weise schuldig, weil er eine Reihe von Symptomen bei seinen jungen Leuten anscheinend nicht genügend beachtet hatte, und war vor allem traurig darüber, daß sich einige von ihnen regelrecht haßten. Dick Snider war weder ein komplizierter noch ein besonders hochgestochener Mensch. In seinem Gesicht, möchte man sagen, spiegelte sich die Geschichte des amerikanischen Westens. Er war in der Zeit der großen Depression zur Welt gekommen, und er glaubte an das Recht und das Gesetz, an sein Land und vor allem unbeirrbar an Fairneß.
Es war lange her, daß ein junger Beamter der Border Patrol eine Idee gehabt hatte, als er aus dem Fenster der Hochzeitssuite in seinem Hotel in San Ysidro schaute und beobachtete, wie die Cops von San Diego Grenzgänger jagten. Die Idee, die da lautete: Es gibt hier gar keine echte Grenze zwischen zwei Staaten. Es gibt sie allenfalls zwischen zwei Wirtschaftssystemen.
Der Beamte der Border Patrol hatte unendlich viel über die Grenzgänger nachgedacht, bloß um nicht über einen sterbenden Sohn – Ich hab ihm nicht helfen können! – nachdenken zu müssen, und anschließend war er zu der Überzeugung gekommen, daß ein Mensch in dem Moment Anspruch auf Hilfe besaß, in dem er die imaginäre Linie, die imaginäre Linie zwischen zwei Wirtschaftssystemen, überschritten hatte.
Er hatte sein halbes Leben an der Grenze verbracht, und er kannte die Sprache und die Lebensart dieser Menschen und hatte sie schätzen gelernt. Sie waren ihm in mancherlei Hinsicht nicht unähnlich. So war es am Ende vielleicht doch zwangsläufig, daß ein unkomplizierter Mann, der derart vorbehaltlos an die amerikanische Lebensart glaubte, das Problem in amerikanischem Stil bei den Hörnern packte. Das heißt, daß mal einer frischen Wind in eine Sache bringt, in der leeres politisches Geschwätz bis dahin nichts als eine riesige Staubwolke aufgewirbelt hat.
Was, letzten Endes, hatten sie zustande gebracht? Er wußte es selbst nicht so genau. »Wir haben sicher einige Menschenleben gerettet«, sagte er. »Natürlich haben wir auch ein paar ausgelöscht.« Dann fügte er hinzu: »Na ja, da gab's dann noch dieses Wunder …«
Und ein Wunder war's in der Tat. Da gab's jene Mexikanerin Rosa Lugo, die wie in einem Alptraum erlebte, daß ihre kleine Tochter von einer ganzen Bande vergewaltigt werden sollte und dann von einem Schwarm wilder Engel gerettet wurde. Der sollte mal einer zu erzählen versuchen, das Ganze sei kein Weihnachtswunder gewesen. Solche Dinge waren ja nun mal passiert. Lauter solche Dinge.
Unter dem Strich aber waren viel Blut, viel Bitterkeit und viel Unzufriedenheit das Resultat gewesen, zerbrochene Karrieren und das Gefühl, massiv hintergangen worden zu sein. Viel menschliche Ignoranz, die ihn zweimal wie ein Hammer zu Boden gestreckt und seine ganze Familie in Angst und Panik versetzt hatte.
Ausgerechnet zu einer Zeit, in der Ronald Reagan den wirtschaftlichen Aufschwung versprach, Miguel de la Madrid seiner schwankenden Nation buchstäblich mit allen Mitteln wieder auf die Beine zu helfen versuchte und die Leute ebenso zutreffend wie lautstark die Meinung äußerten: »Wenn Mexiko stürzt, hast du nichts zu lachen, Amerika!«, ausgerechnet zu einem solchen Zeitpunkt der Geschichte zog ein Mann wie Dick Snider es vor, an sein Leben an der Grenze möglichst nicht mal zu denken. Er saß viel lieber in seinem kleinen Wohnzimmer und spielte auf der Orgel, um sich zu entspannen und seinen Herzschlag zu festigen. Er war nicht in der Lage, Noten zu lesen, konnte aber den einen oder anderen Song recht flott herunterspielen. Sein Lieblingssong hieß:
Sunny, gestern war mein Leben voller Regen
Sunny, du hast mich angelächelt, und der Schmerz ließ nach.
Nun sind die dunklen Tage vorbei, und die hellen Tage sind da …
Er war inzwischen zweiundfünfzig Jahre alt, und sein Gesicht war faltig und zerknittert wie ein Spinnennetz, und während er spielte, blinzelten seine schieferfarbenen Augen durch den Rauch der Zigarette, die ihm im Mundwinkel hing, und die großen,
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