Die Sanddornkönigin
leer, bezahlte und nahm den Rucksack in die Hand.
»War echt nett«, brachte er hervor.
»Fand ich auch«, sagte sie, doch in ihren Augen war ein kleiner Funken Gereiztheit zu erkennen, und sie ging schneller hinaus, als es seiner Ansicht nach nötig gewesen wäre.
Das Bier, das er nun allein zu Ende trinken musste, machte ihm klar: Sie mochte ihn. Wenn sie nicht gerade die Kommissarin wäre, die ausgerechnet den Mord an seiner Kollegin aufzuklären hätte, dann wäre sie geblieben. Doch da sie es war, saß er nun einsam am Tresen, was ihn im ersten Moment etwas traurig machte. Nur im ersten Moment. Im nächsten bestellte er lächelnd ein Bier.
Donnerstag
N ein, Hilke, dieser Raum eignet sich ganz und gar nicht für eine Sitzung. Erstens ist hier Ihr Arbeitsplatz, zweitens haben wir hier weder frische Luft noch natürliches Licht, und drittens möchte ich gern einmal sehen, wie Sie und Thore privat so wohnen.«
Endlich war er angekommen. Hilke hatte die Stunden gezählt, bis Dr. Gronewoldt auf der Insel gelandet und schließlich im Hotel eingetroffen war. Die Nacht über hatte sie kein Auge zugemacht, sie hatte gezittert und gelauscht, geheult und gebettelt. Seit Thore ihr von Ronja erzählt hatte, fühlte sie sich nackt und ausgeliefert. Bisher hatte sie nie daran gezweifelt, bei klarem Verstand zu sein, trotz der vielen Probleme, die sie zweifelsohne hatte. Sie hatte sich felsenfest darauf verlassen, dass all die Erinnerungen tatsächlich passiert waren und dass sie sich auch an alles tatsächlich Passierte erinnern konnte. Doch mit einem Mal war dieser letzte Schutzschild zerbrochen, Hilke begann zu zweifeln, ob sie sich noch auf sich selbst verlassen konnte. Und dabei war sie selbst schon lange die Einzige gewesen, der sie noch getraut hatte.
Nun stand er in ihrem kleinen Atelier, und sie hatte seinen missbilligenden Gesichtsausdruck nicht übersehen. Die Sitzungen hatten sonst immer im sonnigen Wintergarten stattgefunden, dort standen gemütliche Sessel und es war warm und behaglich. Doch seit heute Morgen saßen dort die Leute von der Polizei. Thore hatte ihnen das Zimmer zur Verfügung gestellt, wahrscheinlich, um so etwas Einfluss auf die Ermittlungen ausüben zu können.
»Ich möchte nicht nach oben, ich würde lieber hier bleiben«, sagte sie, und ihr war klar, dass sie ihren Willen viel zu leise kundgetan hatte. Dr. Gronewoldt schien es gar nicht gehört zu haben.
Er hatte das Nähzimmer bereits verlassen und schaute sich auf dem langen Flur um.
»Wo geht es lang?«
Hilke blieb auf ihrem Schemel sitzen.
»Kommen Sie, Hilke. Wir wollen doch beide nicht, dass ich umsonst auf die Insel gekommen bin, oder?«
»Warum?« Das Wort schien von den Stoffballen ringsherum geschluckt zu werden, noch ehe Dr. Gronewoldt es vernehmen konnte. Sie räusperte sich und fragte etwas lauter, aber nur so laut, wie es ihr möglich war: »Warum zwingen Sie mich, nach oben zu gehen? Ich will es nicht. Ich möchte gern, dass wir hier reden, wenn es Ihnen nichts ausmacht… Ich meine ja nur…«
Er hatte auf die Uhr geschaut. Er hatte sie ungeduldig angesehen. Und auf einmal stand sie neben ihm und zeigte ihm den Weg zum Treppenhaus. Den Lift nahm sie schon lange nicht mehr. Zum Glück bestand er nicht darauf, mit dem Fahrstuhl zu fahren, es hätte sie viel Kraft gekostet, sich dagegen zu wehren. Doch obwohl er mit gut zwei Zentnern Leibesfülle zu kämpfen hatte und nicht gerade einen sportlichen Eindruck machte, stieg er mit ihr die Treppe hinauf.
»Es sind achtundfünfzig Stufen, ich zähle sie jedes Mal. Ist so eine komische Angewohnheit von mir.« Er schwitzte.
»Ich denke eher, es ist eine komische Art von Ihnen, sich nicht Ihrer Angst vor der eigenen Wohnung zu stellen. Woher sie auch immer rühren mag.« Dr.
Gronewoldt war ihr noch nie so unförmig erschienen, sie hatte ihm wohl immer einen Heiligenschein aufgesetzt. Doch wie er nun Stufe für Stufe schnaufte und ächzte, fand sie ihn für einen kurzen Augenblick abstoßend.
Die Wohnungstür begrüßte sie am Ende der Treppe mit einem großen blumigen Kranz, der ein Messingschild einrahmte: »Willkommen bei Familie Thore + Hilke + Ilka + Dörthe Felten«. Sie hatte es lang nicht mehr wahrgenommen, dieses kleine Stück heile Welt an ihrer Tür, es versetzte ihr einen Tritt in die Magengegend. Sie schloss auf.
»Wo können Sie sich am besten entspannen?«, fragte Gronewoldt, nachdem sie in den großen Flur getreten waren.
Der Parkettfußboden glänzte
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