Die Sanddornkönigin
zwischen die Beine. Seine kontrollierte Art, verstehst du, zum passenden Zeitpunkt ein Tonband in der Tasche zu haben, zum Beispiel.«
»Meine liebe Wencke, sag jetzt nicht, dass du so etwas wie eine Intrige vermutest…«
»Doch, das sag ich«, sagte sie. Aber sie dachte etwas andere?, Verflucht, warum mussten manche Dinge in der Dunkelheit völlig klar erscheinen und dann bei Sonnenaufgang zu Staub zerfallen?
»Wir sind hier auf einer klitzekleinen, friedlichen Insel. Eintausendachthundert Menschen leben hier einträchtig nebeneinander. Seit Jahren hat unser Kollege Ellers mit nichts Schlimmerem zu tun als mit Fahrraddiebstahl oder nächtlicher Ruhestörung. Und deine blühende Phantasie will nun ausgerechnet hier ganz besonders finstere Machenschaften er kennen. Tut mir Leid, Wencke, dann bin ich froh, dass Sanders kommt, auch wenn er ein affektierter Schnösel ist. Aber bei deinen Theorien komme ich leider nicht mehr mit.«
Meint knüllte seine Serviette zusammen, warf sie auf den verkrümelten Teller und ging.
Zu diesem Zeitpunkt hätte sie noch aufstehen und ihn nachgehen können, doch sie blieb sitzen. Von diesem Moment an war sie allein.
»Frau Kommissarin, darf ich Ihnen vielleicht noch etwas Rührei auftun?«
Wencke schaute hoch. Die Pensionswirtin stand in ihrer gestärkten Schürze an ihrem Tisch, und auf dem Tablett in ihrer Hand lag eine klumpige, dampfende Masse.
»Ich kann mir vorstellen, dass Sie in Ihrem Job ein gutes Frühstück brauchen. Es muss schrecklich aufregend sein bei der Mordkommission.«
»Na ja«, Wenckes Stimme klang müde. »Im Grunde ist es so, als käme man ins Kino, und der Film ist schon vorbei. Der rechte Nachbar sagt, es war ein Trauerspiel, und der Mann zur Linken findet, es sei eine Komödie gewesen. Und Sie sehen den Nachspann und versuchen herauszufinden, wer von beiden Recht hat.«
Die dicke Frau lächelte, obwohl sie den Sinn wahrscheinlich nicht verstanden hatte.
»Nett haben Sie es hier«, sagte Wencke.
»Es freut mich, wenn Sie sich in unserem Haus wohl fühlen. Und? Möchten Sie noch etwas Rührei?«
Wencke hob den Teller an.
»Ja, bitte. Wenn Sie haben, mit Speck.«
Zufrieden häufte die Wirtin einen kleinen Berg auf Wenckes Teller, dann ging sie durch die Tür, auf der »KÜCHE – Zutritt nur für Personal« stand, und wakkelte ein wenig mit ihrem dicken Hintern.
Die hat sicher auch ‘ne Leiche im Keller, dachte Wencke. Das Rührei schmeckte köstlich, der Speck war salzig und kross. Die Frau hatte Recht, Wencke würde bei ihrem Job noch ein gutes Frühstück brauchen.
Meint »Lexikon« Britzke war in Axel Sanders’ Augen ein Schlappschwanz, schließlich war Meint fünf Jahre älter als er, doch der Titel Hauptkommissar war für ihn tabu. Niemand würde je auf den Gedanken kommen, einem schnauzbärtigen Familienvater mit Hang zum Spießertum das Sagen über die gesamte Auricher Sonderkommission zu übertragen. Glücklicherweise schien sich der Kollege mit seiner Rolle abzufinden. Er holte Sanders brav vom Hafen ab und zeigte ihm in dem kleinen Kabuff, welches man kaum als Polizeirevier bezeichnen konnte, die bisherigen Vernehmungsprotokolle, Beweise und den ganzen schriftlichen Kram. Von Wencke Tydmers war nichts zu sehen und zu hören. Entweder schlief sie noch, jetzt, um zehn Uhr – vorstellbar war bei der Frau ja alles –, oder sie führte im Alleingang wieder irgendwelche tief schürfenden Gespräche mit Zeugen, die ihr das Blaue vom Himmel erzählten. Sollte sie doch ihren Weiberkram erledigen. Er widmete sich den Fakten, schwarz auf weiß lagen sie vor seiner Nase, und dank Britzkes akribischer Pingeligkeit fand Sanders sich schnell zurecht.
»Warum um Gottes willen hat Frau Tydmers denn gestern Abend die Suchaktion abgebrochen?«, fragte Sanders gereizt. Er hatte keinerlei Erklärung oder wenigstens einen Anhaltspunkt für dieses Verhalten gefunden. Seiner Ansicht nach war die Suchaktion das einzig Produktive, das seine werten Kollegen bislang auf Juist ins Rollen gebracht hatten. »Diese Felten- Cromminga muss gefunden werden, und zwar so bald wie möglich. Sie kann hier zwar nicht unbemerkt von der Insel verschwinden, aber in ihrem Zustand kann sie sich etwas antun, und dann werden wir nie erfahren, ob und was sie uns zu sagen hatte. Und dass sie etwas weiß, ist doch wohl offensichtlich.«
Britzke sortierte die Blätter neu, Sanders hatte sie achtlos zur Seite gelegt. Er sagte nichts dazu, was für Sanders schon Antwort genug
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